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"Keine roten Linien" Jetzt kommt die Reform-Merkel

Die neue Merkel ist bislang nur in Umrissen erkennbar.

Die neue Merkel ist bislang nur in Umrissen erkennbar.

(Foto: ASSOCIATED PRESS)

Die dominierende Interpretation lautet: Die Deutschen haben das "Weiter so" gewählt, von Reformen wollen sie verschont bleiben. Doch man kann es auch anders lesen: Die Wähler vertrauen Merkel, sie trauen ihr zu, die notwendigen Reformen mit der gebotenen Umsicht durchzusetzen.

Ihr Wohlbefinden sei "sehr, sehr gut", sagt Angela Merkel am Tag nach ihrem Wahlsieg. Das ist ihr anzumerken, die jetzt anstehenden Koalitionsverhandlungen bereiten ihr offenbar kein Kopfzerbrechen. Die Frage nach Schnittmengen der Union mit SPD und Grünen tut sie mit dürren Sätzen ab. "Grundsätzlich sollten demokratische Parteien miteinander koalitionsfähig sein", sagt die CDU-Chefin. "Ansonsten muss man die Dinge diskutieren. Das wird eine gewisse Zeit benötigen." Ach so.

Merkels Union ist in einer paradoxen Situation. Sie hat die Wahl furios gewonnen und steht nun vor dem Problem, einen Koalitionspartner finden zu müssen. Die theoretisch denkbare Variante einer von SPD oder Grünen tolerierten Minderheitsregierung lehnt Merkel ab. Deutschland brauche "eine stabile Regierung". Mit SPD-Chef Sigmar Gabriel habe sie bereits "einen ersten Kontakt" gehabt.

Die Frage, was sie inhaltlich mit ihrem Wahlsieg anfangen will, scheint sich die Kanzlerin noch gar nicht gestellt zu haben. In den Koalitionsverhandlungen will sie zu allen Seiten offen sein. "Über rote Linien spreche ich heute nicht", sagt Merkel. "Das hat keinen Sinn."

"Auch noch nicht dolle"

Merkel-Kritiker in und außerhalb der Union würden einwenden, dass Merkel ohnehin keine roten Linien habe. Denn seit Jahren gilt die Kanzlerin als hochbiegsam. Sie wird als Politikerin beschrieben, die ihre Partei inhaltlich entkernt und in alle Richtungen anschlussfähig gemacht hat. Und doch gibt es einen Kern, an dem Merkel seit Jahren festhält: Immer wieder betont sie, dass Deutschland und Europa sich anstrengen müssen, um nicht von Schwellenländern wie China und Indien überholt zu werden.

In jeder Wahlkampfrede hämmerte Merkel ihrem Publikum ein, dass die Deutschen schon rein zahlenmäßig kaum ins Gewicht fallen. Die Deutschen seien nur ein Prozent der Bevölkerung, die Europäer immerhin schon sieben. Das ist "auch noch nicht dolle", wie es bei Merkel heißt. Die gute Nachricht sei: Diese sieben Prozent schafften ein Viertel der globalen Wertschöpfung, die noch bessere Nachricht sei, den Europäer stünden 50 Prozent der weltweiten Sozialausgaben zur Verfügung. "Wenn wir uns das weiter leisten wollen, ohne weitere Schulden zu machen, dann müssen wir gut sein", betonte Merkel stets.

Wie sie sich Sozialreformen vorstellt, die Europa wettbewerbsfähig machen, hat sie nie verheimlicht: Sie sieht die Agenda 2010 als Vorbild für den gesamten Kontinent. Schließlich sei die Bundesregierung durch die Reformen von 2003 vom "kranken Mann Europas" zum "Wachstumsmotor" geworden.

Die Liste der Herausforderungen ist lang

Beim Wahlkampfabschluss der CDU wurde Merkel noch deutlicher. Deutschland stehe vor großen Veränderungen, sagte sie dort, "darüber ist vielleicht in diesem Wahlkampf gar nicht oft genug gesprochen worden". In der Tat: Die verschobene Pflegereform, die Probleme in der Gesundheitspolitik, mit Zeitarbeit, Werkverträgen und Geringverdienern sind im Wahlkampf nicht sehr oft angesprochen worden.

Noch weniger wurde über die dritte Föderalismusreform diskutiert, die in der kommenden Legislaturperiode angefasst werden dürfte. Denn zum einen müssen die Zuständigkeiten in der Bildungspolitik neu ausgehandelt werden. Zum anderen ist eine Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern überfällig.

Auf der europäischen Ebene muss Merkel klären, was sie eigentlich will: Strebt sie, wie ihre Vorgänger, eine Vertiefung der EU an, oder will sie die Europäische Kommission entmachten und die nationalen Regierungen stärken? Schließlich wäre es nicht schlecht, wenn die Bundesregierung endlich eine stringente Außenpolitik entwickelt. Denn der unter Außenminister Guido Westerwelle zum Prinzip erhobene strikte Nicht-Interventionismus dürfte Deutschland auf lange Sicht isolieren. Kurzum: Auf die Kanzlerin wartet eine ganze Reihe von Herausforderungen.

"Rot geht nicht, knallgrün geht nicht"

Merkel ist 59 Jahre alt, sie hat es nicht mehr nötig, eine ganze Legislaturperiode lang an ihre Wiederwahl zu denken. Merkel könnte sich daher in den kommenden vier Jahren von einer neuen Seite zeigen. Denn längst hat sie gezeigt, dass sie zu radikalem Umbau fähig ist - nicht als Kanzlerin, da reichte es ihr, von den Arbeitsmarktreformen ihres Vorgängers zu profitieren und ihren Sozialminister Franz Müntefering die Rente mit 67 einführen zu lassen. Reformfähigkeit bewiesen hat Merkel als CDU-Vorsitzende. Gegen die Widerstände mittelalter Männer aus Westdeutschland hat die so unscheinbar wirkende Frau aus dem Osten die langweilige CDU zu einer modernen Volkspartei gemacht. Ihr ist zuzutrauen, den Deutschen jetzt, in ihrer dritten Amtszeit als Kanzlerin, die neoliberale Agenda zu präsentieren, mit der sie bei der Wahl 2005 noch fast gescheitert wäre.

Noch bleibt Merkel im Ungefähren. Auf die Frage einer italienischen Journalistin, ob das Wahlergebnis ihre "Leadership" gestärkt habe, spricht Merkel von einem "starken Votum der Wählerinnen und Wähler für ein geeintes Europa". Europa müsse schaffen, was Deutschland bereits geschafft habe: stärker aus der Krise herauszukommen. "Was wir in Deutschland geschafft haben, das können auch alle anderen schaffen."

Wenn Merkel sich entscheidet, von der Politik der abwartenden Hand umzuschalten auf eine Reform-Agenda, dann wird sie nicht darüber reden, sondern es einfach tun. Zunächst jedoch muss die Kanzlerin festlegen, mit welchem Koalitionspartner ihr dies besser gelingen wird. Auch hier lässt sie sich nicht in die Karten gucken. Immerhin gewährt sie einen Einblick in die Komplexität der Entscheidungen, die nun anstehen. "Sie werden's nicht glauben, ich hab heute früh vor meinem Kleiderschrank gestanden und irgendwie gedacht: Rot geht nicht, knallgrün geht nicht. Blau war gestern. Was machst Du?", berichtet sie den Journalisten im Konrad-Adenauer-Haus. Unter dem Jubel ihrer Mitarbeiter fügt sie hinzu: "Und dann habe ich mich für was sehr Neutrales entschieden." Und damit es keine weiteren Diskussionen gebe: Die schwarz-grüne Kette, mit der sie vor der Presse steht, sei "die gleiche wie gestern".

Quelle: ntv.de

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