Zwischenruf Justitia oder der arge Weg der Erkenntnis
02.09.2013, 18:53 Uhr
Drei Jahrzehnte lebte Siert Bruins unter falschem Namen in Westfalen.
(Foto: picture alliance / dpa)
Der Mörder eines niederländischen Widerstandskämpfers steht vor Gericht. Vor drei Jahrzehnten hatten die Richter Siert Bruins noch laufen lassen. Eine Auslieferung an unser Nachbarland war mit dem Hinweis auf dessen deutsche Staatsangehörigkeit verweigert worden. Diese hatte der niederländische SS-Mann aufgrund eines Hitler-Erlasses erlangt.
Es ist unvorstellbar, dass ein Mörder, über Jahrzehnte unbehelligt, seinen Lebensabend genießt, obzwar die Untat bekannt und beurteilt war. 1949 hatte ein niederländisches Gericht den ursprünglich niederländischen SS-Mann Siert Bruins wegen des Mordes an dem niederländischen Widerstandskämpfer Aldert Klaas Dijkema 1944 in Appingedam nahe der Grenze zu Deutschland zum Tode verurteilt.
Als sich das als "het Beest van Appingedam", das Biest von Appingedam, 1980 (!) zum ersten Mal vor einem deutschen Gericht verantworten musste, hieß es von Seiten der Richter, dass es sich um derweil verjährten Totschlag gehandelt habe. Zudem hätte das Opfer mit seiner Erschießung rechnen müssen, denn es hätte nun einmal Krieg geherrscht. Unvorstellbar auch, dass eine Auslieferung an das Königreich 1979 mit der Begründung verweigert worden war, der inzwischen zu Siegfried Bruns mutierte Bruins sei deutscher Staatsangehöriger. Dabei beriefen sich die Behörden auf einen sogenannten Erlass des "Führers" über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Einstellung in die deutsche Wehrmacht, die Waffen-SS, die deutsche Polizei oder die Organisation Todt von 1943. Damals hatte ein niederländisches Gericht Bruins wegen Beihilfe zum Mord an den jüdischen Brüdern Mejer und Lazarus Sleutelberg zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Bruins und seine Spießgesellen hatten die beiden zuvor gezwungen, ihr eigenes Grab auszuheben.
Wie schon im ähnlich gelagerten Fall des ukrainischen SS-Mannes John Demjanjuk stellt manch einer die Frage, ob ein Mensch, der älter als 90 Jahre ist, für Verbrechen büßen soll, das er als junger Mensch begangen hat. Für Buße bleibt schon aus biologischer Sicht nur noch wenig Zeit. Ob der Angeklagte Reue zeigt, werden wir aus seinem Munde nie erfahren: Bruins will sich zur Sache vor Gericht nicht äußern. Die Angehörigen des Opfers hat er heute im Gerichtssaal keines Blickes gewürdigt. Doch es geht darum, den Opfern und ihren Hinterbliebenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und es geht darum, dass sich die bundesdeutsche Justiz endgültig einer Last entledigt, die sie über Jahrzehnte mit sich herumgeschleppt hat: Nachsicht oder gar Milde gegenüber Kriegsverbrechern.
Erinnert sei nur an den als "Schlächter von Warschau" bekanntgewordenen SS-General Heinz Reinefarth, der bis zu seinem Tode im Jahr der Auslieferungsverweigerung Bruins' 1979 unbehelligt auf Sylt lebte und sogar Bürgermeister von Westerland wurde. Oder der Fall des Kommentators der Nürnberger "Rassen"-Gesetze Hans-Maria Globcke, der es unter Konrad Adenauer zum Kanzleramtsminister brachte. Auch die DDR gestattete einstigen Naziaktivisten - wenn auch nicht in dem Ausmaße wie in der Alt-Bundesrepublik - den Aufstieg in höchste Positionen. Generalleutnant Vincenz Müller, 1932 führend beteiligt am "Preußenschlag" gegen die sozialdemokratische Regierung des größten deutschen Bundesstaats, später Kommandeur der 56. Infanteriedivision der Wehrmacht, wurde schließlich Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee.
An diesem Dienstag will die Ludwigsburger NS-Fahndungsstelle ihre Ermittlungsergebnisse zu mehr als 40 mutmaßlichen Aufsehern des KZ Auschwitz der Öffentlichkeit vorstellen, die anschließend an die Staatsanwaltschaften übergeben werden sollen. Es ist zu hoffen, dass dann der arge Weg der Erkenntnis Justitias bis zum Ende beschritten wird.
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 das politische
Geschehen für n-tv. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Manfred Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de