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Zwischenruf Noch besingt Portugal den Aufstand nur

Portugiesisches Parlament: "Rettungspakete" ohne Rettung.

Portugiesisches Parlament: "Rettungspakete" ohne Rettung.

(Foto: picture alliance / dpa)

Nach der Entscheidung des portugiesischen Verfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit eines Teils der Sozialkürzungen droht eine institutionelle Krise. Zugleich verbreitert sich die Front des Widerstands. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten singen die Menschen landauf, landab wieder die Lieder der Revolution von 1974.

Die Entscheidung des portugiesischen Verfassungsgerichts über die Verfassungswidrigkeit eines Teils der Sozialkürzungen im Gefolge des „Rettungspakets“ der Troika aus EU, EZB und IWF droht sich zu einer institutionellen Krise auszuweiten. Zwei Verfassungsorgane stehen sich in einer augenscheinlich kaum lösbaren Grundsatzfrage diametral gegenüber. Das Verfassungsgericht ist übrigens das Nachfolgegremium des 1982 aufgelösten Revolutionsrats. Zwar erklärt die Regierung des rechtsliberalen Ministerpräsidenten Pedro Passos Coelho, die Entscheidung zu respektieren; doch konterkariert der Mann im Lissaboner São-Bento-Palast dies im selben Atemzug, wenn er seinen Sprecher verkünden lässt, dass er mit der höchstrichterlichen Entscheidung nicht einverstanden sei.

Die Front des Widerstands gegen die Austeritätspolitik wird immer breiter. Anfänglich waren nur vernetzte Basisaktivisten tätig, die jedoch ohne eine feste Organisationsstruktur wie in anderen Ländern an Einfluss verloren. Nachdem sich die Kommunisten, der ihnen verbundene mächtige Gewerkschaftsdachverband CGTP-IN und der linkssozialistische Bloco de Esquerda eingeschaltet hatten, erreichte ein nationaler Aktionstag kürzlich landesweit mit anderthalb Millionen Teilnehmern eine Rekordbeteiligung. Nunmehr nehmen auch die Sozialdemokraten der PS und deren Gewerkschaftszentrale UGT an den Aktionen teil. PS-Chef António Seguro fordert den Rücktritt der Regierung und Neuwahlen. Dies entbehrt nicht eines gewissen Anachronismus. Hatte seine Partei doch das erste Sparpaket geschnürt, das schließlich zu Neuwahlen und zum Sieg der bürgerlichen Parteien führte.

Man mag aus mitteleuropäischer Sicht über die politische Bedeutung von Musik schmunzeln: „Grândola Vila Morena“, ein Lied des Revolutionssängers José Afonso, war in den Morgenstunden des 25. April 1974 das entscheidende Signal zum Aufstand der Bewegung der Streitkräfte (MFA) gegen die faschistische Diktatur. Am ersten Märzwochenende war es landesweit nach Jahren wieder in aller Munde. Bezeichnenderweise hatten sich den Protesten auch militärische Interessenverbände angeschlossen, die sich bewusst in die Tradition des 25 de Abril stellen.

Der Glaube, die sogenannten Krisenstaaten würden durch die „Rettungspakete“ gerettet, war von Anfang an ein Irrglaube. Griechenland, Spanien und Zypern sind noch tiefer in die Krise hineingerutscht, die Wirtschaft schrumpft, die sozialen Auswirkungen haben katastrophale Ausmaße angenommen. In Portugal ist die Arbeitslosigkeit seit dem Jahr 2000 von vier auf mehr als sechzehn Prozent gestiegen. Die Jugendarbeitslosigkeit lag analog bei knapp zehn Prozent. Mit derzeit rund vierzig Prozent ist sie nach Griechenland und Spanien die dritthöchste in der Europäischen Union. Teile des Mittelstandes sind in eine „neue Armut“ hinabgesunken. In Portugal gibt es wieder Menschen, die Hunger leiden. Die umstrittenen Kürzungen treffen nicht die Wohlhabenden: Es ging um Abgaben auf die Arbeitslosenhilfe und das Krankengeld. Regierungschef Passos Coelho kündigt nun ganz im Sinne der Forderungen von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble weitere Einschnitte in die Sozialversicherung, das Gesundheits- und das Bildungswesen an. Da mutet es wie Hohn an, wenn Staatspräsident Aníbal Cavaco Silva in einer Fernsehansprache am vergangenen Wochenende eine „neue Menschlichkeit“ beschwor. Noch wird in Portugal der Aufstand nur besungen.

 

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Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 das politische Geschehen für n-tv. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Manfred Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.

Quelle: ntv.de

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