
Aus Sicht der Kanzlerin macht Verkehrsminister Andreas Scheuer "eine sehr gute Arbeit".
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Noch vor wenigen Jahren gehörte es zur politischen Hygiene, dass Bundesminister nach Verfehlungen abtraten. Heute können sie in millionenschwere Affären verstrickt sein und trotzdem im Amt bleiben.
"Ich habe Fehler gemacht, die aber eigentlich nicht zu einem Rücktritt gereicht hätten. Dennoch habe ich mich für diesen Schritt entschlossen, weil das zu meinem politischen Selbstverständnis gehört, dass man für seine eigenen Fehler die politische Verantwortung übernimmt." Weise Worte. Gesagt hat sie Andrea Fischer von den Grünen am 9. Januar 2001, als sie den Posten der Bundesgesundheitsministerin zur Verfügung stellte, nachdem ihr Missmanagement in der BSE-Krise vorgeworfen worden war.
Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Fähigkeit der Bundesregierung, das Problem BSE zu bewältigen, sei erschüttert, ließ sie die Öffentlichkeit wissen - eineinhalb Monate nach dem ersten nachgewiesenen BSE-Fall in Deutschland. So schnell ging das damals, ganz ohne Druck aus den sozialen Medien. Unmittelbar nach Fischer gab auch der sozialdemokratische Landwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke bekannt, das rot-grüne Kabinett von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu verlassen, auch weil seine - wahrlich veraltete - Vorstellung von Agrarpolitik "in großen Teilen der Koalition nicht mehr mehrheitsfähig" war.
Beide Minister übernahmen Verantwortung für Vorgänge, für die sie allein eigentlich nichts konnten. Insbesondere Fischer stellte das Ansehen der gesamten Regierung und die Vorhaben ihrer Partei vor ihre eigenen Interessen. Nur ein Beispiel aus längst vergangenen Zeiten bundesrepublikanischer Politik. Wenn Minister von CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen im Amt ihr Ressort nicht im Griff oder für eigene Zwecke genutzt hatten, in Affären oder Skandale verstrickt waren, dann nahmen sie ihren Hut. Unfähigkeit brauchte nicht gerichtssicher nachgewiesen zu werden - es reichten schon Indizien und eine anhaltend miese Berichterstattung.
Wer nicht selbst Konsequenzen zog, wurde gezwungen. Wie der SPD-Politiker Rudolf Scharping, der sich frei von Fingerspitzengefühl als Verteidigungsminister für die "Bunte" mit Freundin im Swimmingpool auf Mallorca fotografieren ließ, während sich die Bundeswehr auf einen Einsatz im Ausland vorbereitete. Weil er nicht abtreten wollte, feuerte ihn Schröder im Sommer 2002.
Sitze mit Patex
Die Christdemokratin Annette Schavan räumte den Chefsessel im Bildungsministerium im Februar 2013 nach einer Plagiatsaffäre um ihre Doktorarbeit, ohne in der Sache nachzugeben. "Das Amt darf nicht beschädigt werden", sagte sie jedoch und zitierte den Ex-Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Erwin Teufel: "Erst das Land, dann die Partei, dann ich selbst." Der CDU-Mann war nach innerparteilicher Schlammschlacht selbst im Herbst 2004 zurückgetreten mit den Worten. "Unerträglich wäre für mich, wenn die Bürger den Eindruck bekommen würden, dass ich an meinem Amt klebe."
Auch Karl-Theodor zu Guttenberg stolperte über eine Plagiatsaffäre um seine Doktorarbeit. Das CSU-Mitglied mag eitel sein. Er hatte aber das Rückgrat, seinen Posten niederzulegen. Guttenbergs Parteikollege Hans-Peter Friedrich war der letzte Minister im Kabinett von Angela Merkel, der im Februar 2014 seinen Rücktritt erklärte und damit einen Karriereeinbruch hinnahm. Er hatte vertrauliche Informationen zu den Ermittlungen gegen den früheren SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy wegen des Verdachts des Besitzes kinderpornographischen Materials ausgeplaudert. Nimmt man Teufels Ausspruch zum Maßstab, muss man feststellen: Seit Friedrichs Abgang sind die Sitze am Kabinettstisch Merkels mit Patex belegt. Verfehlungen werden weggelächelt oder klein- und schöngeredet. Die Bewertungsmaßstäbe in der Politik haben sich verschoben, ab wann ein Fehl- zum Rücktritt führen sollte.
Besonders krass ist der schier unglaubliche Fall des Andreas Scheuer. Der Linke-Abgeordnete Fabio De Masi brachte die verschobenen Kriterien für Rücktritte wunderbar auf den Punkt, als er im Dezember 2019 zu Beginn des Maut-Skandals Merkel im Bundestag fragte, wie sie einer wegen des Einsteckens eines Pfandbonds gefeuerten Supermarkt-Kassiererin erkläre, dass der Verkehrsminister noch im Amt sei. Immerhin trage er Verantwortung dafür, dass 500 Millionen Euro Steuergelder im Feuer stünden. Die Kanzlerin antwortete, zunächst müsse die parlamentarische Untersuchung abgewartet werden, ehe ein Urteil gefällt werde - was man so sehen kann. Ansonsten gelte: "Ich finde, dass Andi Scheuer eine sehr gute Arbeit macht."
Das Video der Aussage wurde für De Masi ein Hit auf Twitter. Kein Wunder, ist doch Merkels Einschätzung ein Witz, über den die Kassiererin sicher nicht lachen konnte. Inzwischen hat der Untersuchungsausschuss zur Maut das Versagen Scheuers bestätigt. Der Minister ist beim CSU-Vorzeigeprojekt zu große Risiken eingegangen und dürfte gegen Haushalts- und Vergaberecht verstoßen haben. Nach wie vor droht dem Staat eine halbe Milliarde Euro Schadenersatz an die verhinderten Maut-Betreiber. Zwei Fragen bleiben: Warum tritt Scheuer nicht zurück? Und da er es nicht tut: Warum schmeißt Merkel ihn nicht raus?
Kein Wort des Bedauerns
Politische Verantwortung war einmal. Niemals würde Jens Spahn zurücktreten nur aus dem Gefühl heraus, seinen Laden nicht im Griff und die Bevölkerung durch unhaltbare Versprechen in der Pandemie mehrfach kirre gemacht zu haben. Ein Satz wie von Andrea Fischer wird er nicht sagen: "Ich muss erkennen, dass das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger und die Fähigkeit der Bundesregierung das Problem Corona in ihrem Sinne zu bewältigen, erschüttert ist." Finanzminister Olaf Scholz erklärte vor dem Untersuchungsausschuss zum Wirecard-Fiasko, mit dem Skandal absolut gar nichts zu tun zu haben - obwohl er für die Finanzaufsicht dienstrechtlich zuständig ist. Ganz klar: Scholz muss nicht wegen Wirecard zurücktreten. Aber kein Wort des Bedauerns, keine Entschuldigung - das geht nicht.
Affären und Versagen führen nicht mehr zu Rücktritten. Sie sind der Karriere nicht einmal mehr hinderlich. Ähnlich wie Scholz ließ sich Ursula von der Leyen als Verteidigungsministerin vor dem Gremium ein, das die Affäre um illegal vergebene Millionenaufträge ihres Ressorts parlamentarisch aufklärte. Die Christdemokratin tat als Zeugin so, als hätte sie mit all den dubiosen Vorgängen nichts zu tun. Im strafrechtlichen Sinne stimmt das auch. Aber wie schaut es mit der politischen Verantwortung aus?
Den neuen Politikertyp verkörpert auch Franziska Giffey. Sie trat zwar im Mai als Bundesfamilienministerin zurück, weil sie ebenfalls bei ihrer Doktorarbeit geschummelt hatte. Die Sozialdemokratin schied aber nicht etwa aus Reue aus dem Amt, sondern zog "Konsequenzen aus dem andauernden und belastenden Verfahren", wie sie sagte. Das war kein Schuldeingeständnis. Vielmehr wollte Giffey "Klarheit und Verbindlichkeit" in den Vorgang bringen. So funktioniert heute politischer Budenzauber: Eine Verfehlung wird zur Tugend erklärt. Politiker in Spitzenrängen bekommen keine Bewährungschance nach Verfehlungen, sondern nehmen sie sich einfach und werden von ihren Parteien gestützt. Selbstverständlich blieb Giffey SPD-Spitzenkandidatin für die Berliner Landtagswahl im September. Nur "Doktor" darf sie sich im Wahlkampf nicht mehr nennen. Sie wird es verschmerzen.
Quelle: ntv.de