Zwischenruf SS-Verherrlichung im Baltikum
10.04.2012, 15:24 UhrSeit Grass' Israel-Gedicht ist die Waffen-SS wieder in der Diskussion. Die über Jahrzehnte verschwiegene Zugehörigkeit des Schriftstellers zur Waffen-SS wird zu Recht kritisiert. An deren Verherrlichung im Baltikum stößt sich kaum jemand. Auch in Berlin und Jerusalem nicht.

"Veteranen" und Sympathisanten der Waffen SS ziehen im März 2012 durch die Straßen in Riga.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Im Zusammenhang mit Günter Grass' Politgedicht gegen Israel und für den Iran sind das jahrzehntelange Verschweigen seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS und die Mitgliedschaft in der verbrecherischen Organisation überhaupt wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen. Dass aber in Lettland die Waffen-SS hoch im Kurs steht, scheint hierzulande kaum jemanden zu bewegen. Der baltische Staat ist Mitglied der Nato und der Europäischen Union. Sowohl die Atlantische Allianz als auch die Europäische Union bekennen sich zur Demokratie. Die SS, und damit auch die Waffen-SS, wurde 1946 vom Internationalen Militärgerichtshof mit Sitz in Berlin zur verbrecherischen Organisation erklärt. Begründung: Beteiligung an Kriegsverbrechen und am Massenmord an den europäischen Juden.
In Riga hingegen hegen die Regierenden Sympathien für die überlebenden Verbrecher. Alljährlich, so auch jüngst wieder, ziehen "Veteranen" und Sympathisanten, geschützt von starken Polizeiaufgeboten, durch die Straßen der Hauptstadt. Der lettische Staatspräsident Andris Berzins, einst Mitglied der Kommunistischen Partei, stellvertretender Minister der Lettischen Sowjetrepublik und heuer einer der reichsten Männer des Landes, verteidigt die Zusammenrottungen. Die SS-Leute seien "Menschen, die ihr Leben für die Zukunft Lettlands" gegeben hätten. Seine Vorgängerin, die gern als Vorreiterin der Demokratie gefeierte Vaira Vike-Freiberga, pflegte Geld für Kränze für die Gräber von SS-Leuten zu spenden. Unterschiedlichen Angaben zufolge sind während der faschistischen Besetzung Lettland zwischen 80 und 90 Prozent der jüdischen Bevölkerung ermordet worden.
Auch Estland hat so seine Probleme im Umgang mit seiner Nazi-Vergangenheit. Im Riigikogu, dem Parlament, ist ein Gesetzentwurf in Vorbereitung, der die estnischen SS-Angehörigen zu "Freiheitskämpfern" verklärt. Ähnliche Versuche waren jedoch in der Vergangenheit gescheitert. Die Mehrheit der estnischen Juden floh beim deutschen Einmarsch nach Finnland oder in die Sowjetunion; die Verbliebenen wurden unter Beteiligung einheimischer SS-Leute umgebracht.
Gern wird übersehen, dass sich die überwiegende Mehrzahl freiwillig zu SS meldete. Gern wird erklärt, die Männer hätten nicht für Hitler, sondern gegen die Sowjets gekämpft. An den Verbrechen ändert dies nicht ein Jota.
Proteste der Bundesregierung gegen die SS-Verherrlichung beim estnischen Nato-Partner sind nicht bekannt. Ebenso wenig wie ein Einreiseverbot Israels für den estnischen Staatspräsidenten. Wer A sagt, wird nur glaubwürdig, wenn das B folgt.
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 das politische Geschehen für n-tv. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist er Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de