Zwischenruf Türkei: Machtkampf und kein Ende
24.02.2010, 15:16 Uhr
(Foto: picture alliance / dpa)
Wieder lässt Erdogan Offiziere verhaften. Bei dem Machtkampf zwischen Militär und Regierung geht es seit Jahren um den Charakter des Staates: Laizismus oder politischer Islam?
Mit der Verhaftung weiterer Offiziere hat der Machtkampf in der Türkei einen weiteren – vorläufigen – Höhepunkt verreicht. Mehr als 200 stehen bereits vor Gericht. Der Vorwurf, einen Staatstreich vorbereitet zu haben, scheint kaum aus der Luft gegriffen. Zwischen 1960 und 1997 putschten die Militärs nicht weniger als vier Regierungen aus dem Amt.
Das Gewicht der Armee im politischen Leben rührt aus dem Umstand her, dass sie eher existierte als die Nation. Ihr späterer Oberbefehlshaber Mustafa Kemal Atatürk gilt zu Recht als Vater der Nation. Sein Kemalismus genanntes Konzept repräsentierte den radikalen Bruch mit der islamisch-osmanischen Tradition: Vom Verbot der Scharia über die Abschaffung von Fez und Pluderhosen und die Einführung des Gregorianischen Kalanders und der lateinischen Schrift bis hin zur Frauenemanzipation. Die Republik trat an die Stelle der Monarchie, Staat und Religion wurden streng getrennt. Die Streitkräfte verstanden sich als Garanten der Umwälzungen, die das Land in – historisch gesehen – kurzer Zeit aus dem Mittelalter in die Moderne beförderten.
Welchen Charakter soll der Staat haben?
Es geht bei diesem seit Jahren andauernden Machtkampf um nicht mehr und nicht weniger als den Charakter des Staates: Bleibt dessen laizistisches Wesen erhalten oder bewegt sich das Land langsam, aber zielsicher auf den politischen Islam zu?
Unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdo?an sind die innenpolitischen Reformen weiter vorangekommen als unter seinen laizistischen Vorgängern. In der Kurdenfrage hat es viele Gesten gegeben, praktisch hat sich kaum etwas getan.
Selbstverständnis als euroasiatische Mittelmacht
Außenpolitisch verliert der Beitritt zur Europäischen Union an Bedeutung. In den Vordergrund rückt immer mehr der Ausbau der Beziehungen zu Ländern, die früher zum Osmanischen Reich gehörten. Eine Ausnahme bildet Israel. Im Zuge des
Neo-Osmanismus haben sich die von den Militärs beförderten Beziehungen zu Tel Aviv verschlechtert. Die Türkei steht im Atomstreit mit dem Iran auf der Seite Teherans.
Ankara begreift sich heute weniger als Brücke zwischen Europa und dem Vorderen Orient, sondern als euroasiatische Mittelmacht mit eigenen ökonomischen, politischen und militärischen Zielen. Dabei kann sich die Türkiye Cumhuriyeti auf eine solide Wirtschaftskraft stützen. Auch wenn das Militär sukzessive an Einfluss verloren hat, entschieden ist der Machtkampf noch nicht. Doch mit den neuerlichen Verhaftungen hat Erdo?an einen weiteren Etappensieg verbuchen können.

Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de