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Zwischenruf Tunesien: Droht ein zweiter Aufstand?

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(Foto: dpa)

Das Problem der Massenflucht aus Tunesien lösen keine italienischen Polizeiknüppel. Entscheidend sind soziale und wirtschaftliche Umgestaltungen in dem nordafrikanischen Land. Ansonsten könnte die Ungeduld der Jugend zu neuen Aufständen führen.

Richter demonstrieren in Tunis für die Unabhängigkeit der Justiz.

Richter demonstrieren in Tunis für die Unabhängigkeit der Justiz.

(Foto: dpa)

Wir sind daran gewöhnt, dass aus dem regierungsoffiziellen Italien dieser Tage zumeist nur dummes Zeug zu hören ist. Es gehört aber schon eine überdurchschnittliche Portion Dummheit dazu, wenn Innenminister Roberto Maroni von der rechtsnationalistischen Lega Nord Tunesien vorschlägt, Polizisten übers Mittelmeer zu schicken, die verhindern sollen, dass der Flüchtlingsstrom weiter anschwillt. Eigentlich hätte sich der Ministerpräsident zu Wort melden müssen. Doch nimmt kein seriöser Politiker mehr für voll: Mit seiner bis zur allerletzten Sekunde hat sich Silvio Berlusconi endgültig ins europäische und mediterrane Abseits gestellt. Von der Anklage wegen der Prostitution Minderjähriger ganz zu schweigen.

Das Problem der aus Tunesien durch den Einsatz von italienischen Polizeiknüppeln lösen zu wollen, zeugt von völligem Unverständnis der Lage in dem nordafrikanischen Nachbarland. Die 5.000 überwiegend jungen Menschen haben sich trotz der Veränderungen auf den Weg in eine Zukunft gemacht, die ihnen immer noch sicherer scheint als die Perspektiven in ihrer Heimat. Politisch haben immer noch Kräfte das Sagen, die mit dem geschassten Staatschef Zine el-Abidine Ben Ali verbunden waren. Es ist gut, wenn Bundesaußenminister Guido Westerwelle Interimspräsident Mohammed Ghannouchi  logistische und finanzielle Unterstützung bei der Durchführung von Wahlen, dem Aufbau einer unabhängigen Justiz und einer freien Presse zusichert.

Allein: Dies wird nicht reichen. Entscheidend sind soziale und wirtschaftliche Umgestaltungen, die den Tunesiern zeigen, dass es sich lohnt, im Lande zu bleiben. Den Revoltierenden von Bizerta, Tunis und Tozeur ging es nicht allein um den Sturz der Diktatur. Ja, dies war nicht einmal das vordringliche Anliegen. Auslösendes Moment der Erhebung war die Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers mit Abitur (!), dem Schergen des Regimes zum wiederholten Mal eine Genehmigung zum Betreiben seines Verkaufskarrens verweigerten. Die andauernde Ungeduld der Jugend könnte zu neuen Aufständen führen. Und zu weiteren Massenfluchten. Erst, wenn sozialpolitische und ökonomische Veränderungen die Lebenslage der Menschen spürbar verbessern, wird man von einer Revolution sprechen können. Das wird nicht von einem Tag auf den anderen gehen, aber es darf kein Tag mehr verstreichen, ohne dass das Problem angegangen wird. Dazu gehört zunächst auch und vor allem europäisches Geld für Sozialprogramme und den Ausbau des Gesundheitswesens. Denn weder italienische Polizisten noch deutsche Demokratielehrer können die täglichen Nöte der Menschen lindern.

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Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.

Quelle: ntv.de

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