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Umdenken in Berlin? Ukraine steht vor wichtiger Zäsur

Auge in Auge stehen sich in der Ukraine Demonstranten und Polizisten gegenüber. Doch die Kraft der Opposition könnte bröckeln.

Auge in Auge stehen sich in der Ukraine Demonstranten und Polizisten gegenüber. Doch die Kraft der Opposition könnte bröckeln.

(Foto: dpa)

Der Aufruf Vitali Klitschkos zum Generalstreik und seine Forderungen nach Sanktionen gegen sein Land sind ein letztes Aufbäumen. Nach bitteren Erfahrungen wächst das Misstrauen vieler Menschen in die Opposition.

Gut zwei Monate nach Beginn der Proteste in der Ukraine sitzen Präsident Viktor Janukowitsch und seine Clique immer noch fest im Sattel. Trotz des massenhaften Zulaufs bei den Demonstrationen in Kiew ist der Widerstand in der Provinz kaum nennenswert. Eine Ausnahme bildet das Gebiet um Lwiw, wo nationalistische und faschistische Kräfte starken Rückhalt haben. Dort wurde in der Nacht auf das orthodoxe Weihnachten am 6. Januar das Denkmal am Massengrab von Soldaten der Roten Armee zerstört.

Militante Mitglieder und Sympathisanten der antisemitischen Partei Swoboda sind auch für die Eskalation der Auseinandersetzungen mit der Polizei bei der Besetzung des Sitzungssaals des Kiewer Stadtrats verantwortlich. In der vergangenen Woche zogen rund 15.000 Menschen unter schwarz-roten Fahnen des Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera durch das Zentrum der Hauptstadt.

Bandera-Fahnen finden sich aber auch auf Demonstrationen der Opposition, die sich selbst als demokratische Alternative zu Janukowitsch & Co. sieht. Swoboda unterhält Beziehungen zur NPD. Swoboda-Chef Oleg Tjahnybok gehört neben Klitschko und Arsenij Jatsenjuk, Kopf der Timoschenko-Partei, zum "Triumvirat" der Opposition, das jedoch angesichts Klitschkos unverhohlenem Führungsanspruch auseinanderzubrechen droht.

Der Aufruf zum Generalstreik von Oppositionsführer Vitali Klitschko ist der möglicherweise letzte Versuch, eine Wende zugunsten der Opposition herbeizuführen. Zwar befürworten einer jüngsten Umfrage zufolge rund 45 Prozent der Einwohner der einstigen Sowjetrepublik eine engere Anbindung an die EU. Fraglich ist aber, ob es gelingt, dies in praktisches politisches Kapital umzusetzen.

Nur ein anderer Teil der Oligarchie

Berichten zufolge haben viele Ukrainer wenig Vertrauen in die selbsternannten Demokraten: Nach der orangefarbenen "Revolution" kam mit dem späteren Staatspräsidenten Viktor Juschtschenko, einem Verehrer Banderas, und dessen Premierministerin Julia Timoschenko lediglich ein anderer Teil der Oligarchie an die Macht. Die wirtschaftliche Not großer Teile der Bevölkerung blieb unverändert. Zunehmend unklar sind auch die Ziele der Opposition. Warum Präsidentenwahlen jetzt und nicht – wie geplant – im nächsten Jahr?

Unter dem Eindruck der Erfolglosigkeit der Opposition und des wachsenden Einflusses faschistischer Kräfte beginnt offenbar auch in Berlin ein vorsichtiges Umdenken. Nachdem das Junktim zwischen der Freilassung Timoschenkos und dem EU-Assoziierungsabkommen gescheitert ist, glaubt man nun, in Janukowitschs Zick-Zack-Kurs zwischen Europäischer und Eurasischer Union Ansatzpunkte für eine differenziertere Haltung gegenüber der Ukraine zu finden. Nicht zufällig verweist der neue Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler darauf, dass nicht einmal geklärt sei, ob ein Assoziierungsabkommen mit der EU und eine Mitarbeit der Ukraine in der Zollunion mit Russland wirklich unvereinbar sind.

Auf die Forderung Klitschkos nach EU-Sanktionen gegen sein Land werden sich weder Brüssel noch Berlin einlassen. Über kurz oder lang werden die Massenproteste abebben. Eine Regierungsumbildung kann als Ventil dienen, um Druck von der Straße zu nehmen: Laut einer anderen Umfrage sind 50 Prozent der Ukrainer für den Rücktritt von Premier Mykola Asarow und Innenminister Witalij Sachartschenko, die für den brutalen Einsatz der Sicherheitskräfte verantwortlich gemacht werden. Übrig bleiben wird ein harter, nationalistischer Kern, den Janukowitsch mit polizeilicher Gewalt kontrollieren kann. Die Präsidentenwahl 2015 wird die entscheidende Zäsur auf dem weiteren Weg des zweitgrößten europäischen Staates.

Quelle: ntv.de

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