Zwischenruf Ungarn: Eine traurige Baracke
03.01.2012, 14:17 Uhr
Tausende Ungarn gehen gegen MInisterpräsident Viktor Orban auf die Straße.
(Foto: dpa)
Ungarn hat sich mit seiner neuen Verfassung auf den Weg des Demokratieabbaus begeben. Zehntausende gehen auf die Straße, Brüssel und Washington melden Bedenken an. Die Umfragewerte für die rechtskonservative FIDESZ-Regierung sinken. Doch selbst eine neue Koalition könnte vieles nicht rückgängig machen.
Ungarn macht sich mit seiner neuen Verfassung auf die Reise in die Vergangenheit: Mit schwülstigem Nationalismus wird die Staatsgründung durch König Stephan vor tausend Jahren beschworen. Der Begriff Republik wird aus dem Staatsnamen gestrichen, wenngleich das Land weiter als Republik definiert wird. Über dem Text schwebt der Geist von Trianon, jenem Pariser Vorort, in dem 1920 der Verlust von zwei Dritteln des Vorkriegsterritoriums besiegelt wurde: Wenn es im neuen Grundgesetz heißt, Ungarn lasse sich von "der Idee der einheitlichen ungarischen Nation" leiten und habe "die Verantwortung für das Schicksal der außerhalb der Landesgrenzen lebenden Ungarn", dann klingeln den Regierenden in der Slowakei, Rumänien und Serbien die Ohren: Dort leben die meisten Auslandsmagyaren. Wenn die "Heilige Ungarische Krone (…) die verfassungsmäßige staatliche Kontinuität Ungarns verkörpert", meldet Budapest indirekt Ansprüche auf Gebiete an, welche heute zur Slowakei, Slowenien, Serbien und Rumänien liegen. Mit dem gleichzeitigen Bekenntnis zur Europäischen Union verträgt sich dies nur bedingt.
Überhaupt meldet Brüssel Zweifel an, ob die neue Etappe in Ungarns Geschichte mit den demokratischen Prinzipien der Union übereinstimmt. Gleichschaltung der Medien und eine Überhebung der Regierung über das Verfassungsgericht gehören ganz sicher nicht zu dem in der Verfassung verankerten Rechtsstaat. Dies gilt auch für den laxen Umgang mit der faschistischen Rechten, die Diskriminierung der Roma und die Duldung von Antisemitismus. Wenn sogar die USA, denen Ungarn militärpolitisch aus der Hand frisst, Zweifel anmelden, ob das Land sich an die Gewaltenteilung hält, muss es schon ganz schön böse aussehen. Sorge bereitet auch, dass die Unabhängigkeit der Zentralbank passé ist.
Staatspleite droht
Die jüngsten Proteste finden vor dem Hintergrund einer abermals drohenden Staatspleite statt. 2008 hatte der Internationale Währungsfonds aus der Patsche geholfen. Ein Jahr später weckte Ministerpräsident Viktor Orban und seine rechtskonservative FIDESZ-Partei die Illusion, Milliarden aus Peking würden Milliarden aus Washington ersetzen. Nun muss Orban wieder nach Canossa. Eigentlich wollte er für diesen Fall abtreten.
Ungarn galt mit seinem Gulaschsozialismus einst als "lustigste Baracke im sozialistischen Lager". Nach Erlangung der Demokratie droht das Land nun zur traurigsten Baracke der EU zu werden.
Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.
Quelle: ntv.de