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Zwischenruf Wo bleibt der Aufschrei?

"Unanständig" nennt der Vorsitzende der bayerischen Jungen Union die jüngsten Äußerungen des Chefs der christdemokratischen Schwesterorganisation über die Hartz-IV-Empfänger. Stefan Müller ist freundlich mit seinem Kollegen Mißfelder. Menschenverachtend wäre treffender gewesen. In grenzenloser Borniertheit hatte Mißfelder dereinst bedürftigen alten Menschen ein künstliches Hüftgelenk verweigert. Nun das Postulat, für Sozialleistungen Gutscheine statt Geld zu verteilen. Am besten für so preiswerte Supermärkte wie Edeka oder Kaiser’s statt für Teuerläden wie ALDI oder Netto, wie’s vielerorts für Asylbewerber üblich ist.

Flachbildschirme und Wodka

Mißfelder unterstellt, dass in Not Geratene überwiegend zum Alkohol greifen und ihre Kinder vernachlässigen. Solche Fälle gibt es, und es sind zu viele. Der Mißfelderschen Lösungsweg aber pauschalisiert ebenso wie der anderer Politiker, die mit den Unworten Sozialschmarotzer, Scheinasylanten oder Asylbetrüger operieren. Wer erinnert sich noch an den Mann, der unter der Überschrift "Florida-Rolf" von der "Bild-Zeitung" mit dem unseligen Begriff Sozialschnorrer bedacht wurde? In jenem Jahr 2003 hatte die damalige Bundessozialministerin Ulla Schmidt nichts Schlechteres zu tun, als im Eilverfahren eine Verschärfung der Richtlinien zur Zahlung von Sozialhilfe ins Ausland durchs Kabinett zu peitschen. Wo bleibt der Aufschrei von Frau Schmidt, die heute dem Gesundheitsressort vorsteht? Niemand denke, Mißfelder stünde mit seinem neuerlichen Missgriff allein da. Auch Familienministerin Ursula von der Leyen unterstellt Hartz-IV-Empfängern den Hang zu Flachbildschirmen und Wodka. Die Denkungsart reiht sich ein in die von Pseudowissenschaftlern wie Friedrich Thießen und Christian Fischer von der Universität Chemnitz, die nachweisen wollten, dass der Mensch auch mit 132 Euro im Monat prima leben kann.

Missbrauch und Profitgier

Selbst, wenn es stimmt, dass der Missbrauch der Sozialhilfeempfänger im Berliner Problembezirk Neukölln bei 15 Prozent und mehr liegt – um nur ein Beispiel zu nennen – die Summen, um die es geht sind Peanuts im Vergleich zu den Unsummen, die profitgierigen Pleitebanken bislang aus den Taschen der Bürger zugeschustert wurden. Deren Bosse obendrein die Chuzpe besitzen, Boni in Millionenhöhe einzustreichen.

Mißfelder sollte endlich zurücktreten. Bis zur Stunde hat sich Angela Merkel nicht zu der neuerlichen Entgleisung des Jungunionistenchefs geäußert. Stattdessen hat die Bundeskanzlerin in ihrem Amtssitz wieder einmal ihren Lieblingspart gegeben: Vollmundige Attacken gegen die Hedgefonds und wenig nachhaltige Forderungen nach einer Kontrolle internationaler Finanzoperationen. Eine diesbezügliche Gesetzesinitiative ist aber ebenso wenig in Sicht wie ein Machtwort an die Adresse des Vorstehers ihrer Nachwuchsorganisation.

Manfred Bleskin kommentiert seit 1993 für n-tv das politische Geschehen. Er war zudem Gastgeber und Moderator verschiedener Sendungen. Seit 2008 ist Bleskin Redaktionsmitglied in unserem Hauptstadtstudio in Berlin.

Quelle: ntv.de

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