Wieduwilts Woche

Wieduwilts Woche Shitshow in Berlin: Auf der Suche nach Anstand

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Kai Wegner vor dem dritten Wahlgang im Berliner Abgeordnetenhaus.

Kai Wegner vor dem dritten Wahlgang im Berliner Abgeordnetenhaus.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die kaputte Hauptstadt hat eine neue Regierung - und die hat schon zu Beginn Risse. Daran sind gleich drei Parteien schuld.

Diese Kolumne liefere ich spät, weil sich vor meinem Büro, das eigentlich ein kleines sich französisch gebendes Café ist, gerade zwei Betrunkene prügeln. Ich bin kein Freund von Schlägereien, aber diese hier passt dann doch ganz gut als Kolumnenkulisse, denn der Text, an dem ich hier tippe, handelt von Anstand in der Hauptstadt - oder vielmehr: dessen Abwesenheit.

Während also die Dame vom Café das Sucuk-Panini reicht und mich aufgeregt über die Entwicklungen vor der Tür auf dem Laufenden hält ("Polizei ist jetzt da, aber die eine Betrunkene hat sich im Hauseingang eingeschlossen!"), grübele ich über die letzten sieben Tage und die extrem unanständig verlaufene Wahl des neuen Regierenden Bürgermeisters von Berlin.

Was ist eigentlich Anstand genau? "Als Anstand wird in der Soziologie ein als selbstverständlich empfundener Maßstab für ethisch-moralischen Anspruch und Erwartung an gutes oder richtiges Verhalten bezeichnet", sagt Wikipedia. Es hat tatsächlich mit "anstehen" zu tun, erfahre ich, und, vor allem, mit dem äußerlich sichtbaren Verhalten, weniger mit der Sitte, also der inneren Tugend.

Anstand ist geil

Anstand ist jedenfalls geil, sehr sogar! Ich habe mich in Hamburg einmal über ein Verwarnungsgeld gefreut, so sehr liebe ich Anstand! Etwas in Eile schnippte ich am dortigen Hauptbahnhof eine Kippe hinfort und wollte grad zum Gleis, als mir ein dezent Uniformierter entgegenschritt. "Guten Tag", wünschte er in dieser sonoren, fröhlich-selbstbewussten Amtsinhaberstimme, er habe gesehen, dass ich da eine Zigarette weggeschnippt habe, die, darum müsse er mich höflichst bitten, müsse ich jetzt erst einmal aufheben, das sei nämlich eine Ordnungswidrigkeit gewesen.

Dem ersten Schrecken wich sofort ein irres Lustgefühl: Ich lächelte den Uniformierten beseelt an und eilte sofort zur Kippe, lächelte ihn auch noch beim Bücken an und warf sie dann mit einer Mischung aus Scham und Ordnungsfreude in einen dieser adretten Hamburger roten Quadrateimer. Er habe so recht, gurrte ich devot und wartete auf die Strafe.

Den Mann irritierte meine Freude nur kurz, er redete nun weiter, ich hörte irgendwas Juristisches, aber ich war so fasziniert von dieser Wiederherstellung der guten Ordnung, dieses herbeibefohlenen hanseatischen Anstands, ich wollte mich direkt nach vorn beugen, damit der Herr vielleicht mit einem Stock - doch ich schweife ab.

Bürgermeister von Gnaden der AfD?

Jedenfalls: In Berlin ist das anders. Hier kann man auf dem Vorplatz des Bahnhofs täglich ein bis zwei Leichen abladen, das würde niemanden groß stören, bei der dritten würde jemand wohl darum bitten, das ortsübliche Pappschild auf die Entsorgungen zu kleben ("Zu verschenken!"). Als ich einmal im Bahnhof darauf aufmerksam machte, dass da draußen seit einer Weile jemand regungslos unterm Mülleimer liege, sagte mir eine Dame im Bahnhof, ja, aber das sei doch außerhalb des Bahnhofs und schaute verständnislos.

Anstand also, diese wirklich endgeile Angelegenheit, ist in der Hauptstadt Mangelware, das gilt am Bahnhof wie im Parlament. Bei den vergurkten Senatswahlen steht selbst die CDU im Verdacht, ihren eigenen Kandidaten Kai Wegner nicht geschlossen gewählt zu haben, weil manche der Unionisten offenbar nicht das von ihnen gewünschte Pöstchen bekommen haben. Die SPD hat ihn vielleicht auch nicht ganz gewählt, weil Wegner empörenderweise kein Sozialdemokrat ist.

Weil es ihr nie genug Zwietracht und Chaos sein kann, hat die Alternative für den Anstand, die AfD, nun in die Verwirrung hineinbehauptet, sie habe Wegner im dritten Wahlgang auf den Thron gewählt. Dafür hatte die Fraktion noch vor dem dritten Wahlgang eine entsprechende Pressemitteilung verteilt. Nach der Wahl behaupteten 12 von 17 AfD-Abgeordneten gegenüber ntv: Ja, wir haben Wegner gewählt. Da Wegner gerade einmal 86 Stimmen bekommen hat, also genau so viele, wie seine Koalition aufbringen kann, ist die Behauptung nur so mittel plausibel. Denn dann hätten im dritten Wahlgang weniger Abgeordnete der Koalition für ihren Kandidaten gestimmt als im zweiten.

Rache und ungestillte Ambitionen

Da die Wahl geheim ist, werden wir aber nie wissen, ob die AfD einmal mehr lügt oder tatsächlich ihr "stadtmännisches" Bewusstsein entdeckt hat. Ihr Ziel ist klar: Die AfD will, dass ein bisschen ihrer braunen Fingerschmiere am neuen Berliner Bürgermeister kleben bleibt. Die Toxizität des Mitgewähltwordenseins ist seit der Wahl des Liberalen Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten in Thüringen (für vier Wochen) hinreichend bekannt.

Als gebürtiger Schleswig-Holsteiner entrüstet mich das alles wenig, ich kenne Politik nur als Energymix aus Ranküne und Verrat. In meinem Heimatland nennt man "Heide-Mörder" nicht den Mann, der drei Frauen zerstückelte, sondern eine bis heute unbekannte Politikperson, die damals im dritten Wahlgang die damalige Ministerpräsidentin Heide Simonis zum Absturz brachte. Die Sozialdemokratin vermutete dahinter Hass, ihr Widersacher Peter Harry Carstensen von der CDU mutmaßte mehr als Rache, nämlich "ungestillte Ambitionen". Womit Emotionalität und Karrierismus ja wieder so auf die Parteien SPD und CDU verteilt sind, wie man es derzeit in der Hauptstadt vermutet.

Angesichts des Berliner Gesamtzustands liegt die Frage in der Luft, ob wir in Sachen deutsche Hauptstadt vielleicht bitte Bonn noch einmal sehen könnten. Aber Verzagen nützt ja nichts: Wir können es nur besser machen, auch unter einer kaputten, womöglich mit AfD-Kleber zusammengehaltenen Senatsverwaltung. Anstand braucht keine Gegenseitigkeit, daran müssen wir in Berlin wohl auch weiterhin setzen, sonst wird das alles nichts.

Es gibt Hoffnung

Und es gibt Hoffnung: Manche haben nämlich auch im Kot-Tornado der Berliner Wahl den Anstand hochgehalten. Als ruchbar wurde, Wegner könnte mit Hilfe der AfD zum Bürgermeister werden, bliesen manche Grüne zunächst zum Angriff: Von einem "unfassbaren Dammbruch und einem Vergehen an den Grundwerten unserer demokratischen Gesellschaft" donnerte Jan Philipp Albrecht, Ex-Minister aus, ausgerechnet, Schleswig-Holstein und heute im Vorstand der grünennahen Böll-Stiftung. Das würde die Koalition nie wieder los, schimpfte er.

Doch ein Grüner, der schon von außen und dem Namen nach hochanständig wirkt, rief zur Mäßigung. Der stets adrett gekleidete Bundestagsfraktionsvize und Jurist Konstantin von Notz sagte: "Ich glaube, manchmal wäre es einfach gut, einmal inne zu halten, zu überlegen und zu bedenken, was passiert ist, sich zu besprechen, abzuwägen und sich erst dann zu verhalten und zu äußern."

Nachdenken statt losprügeln, gewissermaßen. Sehr anständig. Inzwischen hat Albrecht seinen Donner-Tweet gelöscht - auch anständig. Man muss schließlich nicht bei jeder Kampagne der AfD mitspielen.

Auch vor meinem Café ist derweil Ruhe eingekehrt: Die Betrunkenen sitzen jeweils auf den Rückbänken zweier Polizeiwagen und überdenken ihre Lebensführung. Die Bedienung ist kurz raus, ihren Van aus dem absoluten Halteverbot fahren. Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung für diese Stadt. Die Kippen kommen jedenfalls in den Eimer - sogar am Berliner Hauptbahnhof. Versprochen!

Quelle: ntv.de

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