Karsai fordert Nato-Abzug aus Afghanistan "Ausgesprochen, was alle denken"
15.03.2012, 20:17 Uhr
Die Gastfreundschaft ist erschöpft: Nach dem Amoklauf eines US-Soldaten mit 16 Toten und etlichen weiteren Skandalen will Afghanistans Präsident Hamid Karsai die Nato-Kampftruppen ein Jahr früher als geplant nach Hause schicken. Sein Land sei bereit, schon 2013 und nicht erst 2014 die vollständige Sicherheitsverantwortung zu übernehmen, ließ das afghanische Staatsoberhaupt vermelden. Während die Reaktionen aus den USA und Deutschland bislang zurückhaltend sind, beziehen die Kommentatoren der deutschen Zeitungen Stellung.

Afghanistans Präsident Karsai will das Ende des Nato-Kampfeinsatzes schon 2013 sehen – ein Jahr früher als geplant.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Landeszeitung schreibt: "Die Marionette des Westens zerrt an ihren Fäden. Und das, obwohl Karsai sich nur dank westlicher Bajonette als Potentat inszenieren kann. Offenbar erscheint Karsai nach den Koranverbrennungen und dem Amoklauf eines US-Soldaten das Risiko größer, als Statthalter des Westens zu gelten, denn ohne den Schutz des Westens zu sein". Die Kommentatoren aus Lüneburg spekulieren angesichts des Vertrauensverlustes der Nato-Truppen in der afghanischen Bevölkerung: "Vielleicht ebnete das einem neuen, bizarren Deal in der an überraschenden Ränkespielen so reichen Geschichte der afghanischen Stammesgesellschaft den Weg: Einem Bündnis der verfeindeten Taliban mit Karsai, um die Ungläubigen schneller aus dem Land zu bekommen".
"Präsident Hamid Karsai glaubt offenbar, dass er sein politisches und physisches Überleben von nun an besser ohne als mit den ausländischen Soldaten sicherstellen kann", konstatiert die Augsburger Allgemeine. Nach Ansicht der bayerischen Zeitung sollte die Nato "die Einladung annehmen": "Den Krieg am fernen Hindukusch können sie ohnehin nicht gewinnen, selbst wenn sie zehn weitere Jahre im Land blieben. Ein schneller Abzug 2013 kommt auch den deutschen Interessen entgegen. Holt die Soldaten endlich nach Hause!".
In der Berliner Zeitung ist zu lesen: "Karsais populistische Äußerung trifft sich ganz hervorragend mit den Interessen der westlichen Staaten, die seit mehr als zehn Jahren mit ihren Soldaten in einen Krieg verwickelt sind, der nicht zu gewinnen ist". Auch wenn in Washington, London, Berlin und Paris noch am Termin Jahresende 2014 festgehalten werde, so würde es nach Ansicht der Kommentatoren aus der Hauptstadt niemanden stören, wenn dies bereits früher geschehe: "Karsai hat nur ausgesprochen, was alle denken".
Für die Braunschweiger Zeitung entspräche es "dem bisherigen Selbstbetrug, wenn der Westen das Signal Karsais missachtete: Die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung lehnt die Besatzer ab, wobei die Folgen in Kauf genommen werden. Sie liegen in der unabwendbaren Rückkehr der Taliban an die Macht. Die Koranverbrennungen und der Tod unschuldiger Frauen und Kinder sind trotz der Singularität dieser Taten eine gesellschaftliche Zäsur in Afghanistan, weil sie auf brutale Weise die Gegensätze zwischen Kulturen verdeutlichen, die schon gar nicht durch das Militär versöhnt werden können". Der Kommentar aus Niedersachsen lautet: "Es ist ein bitterer Schlusspunkt, dass Afghanistan selbst das Ende des Einsatzes vorgibt".
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) nimmt die Konsequenzen des Truppenabzugs in Visier: "Die Entwicklung in Afghanistan führt fast zwangsläufig in eine Richtung, die von den Traditionen des Landes bestimmt ist. Die Streitkräfte, die jetzt schon nach ethnischen Kohorten organisiert sind, werden sich wieder in Milizen aufteilen, die sich nach Stammeszugehörigkeit und/oder regionalen Kriterien gliedern. Entsprechend wird es wieder 'Warlords' oder regionale Machthaber geben, die sich um die Zentralregierung in Kabul wenig scheren. Afghanistan wird sich zu einer losen Föderation zurückverwandeln, mit einem schwachen Oberhaupt. Aber hoffentlich nicht mehr zum sicheren Hafen für Terroristen".
Quelle: ntv.de, zusammengestellt von Susanne Niedorf-Schipke