Zusammenstöße in der Türkei "Blutspuren führen zu Erdogan"
11.06.2013, 21:49 Uhr
Wieder gehen Polizisten gegen Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul vor. Wieder kommt Tränengas zum Einsatz. Die Kommentatoren in Deutschland sind sich einig: Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan muss einlenken.
Die Franfurter Rundschau wirft Erdogan vor, er stachle seine religiösen Anhänger mit Fehlinformationen auf und behaupte weiter stur, ausländische Kräfte stünden hinter den Protesten. "Erdogan hat immer noch nicht verstanden, dass die Proteste sich gegen seine autoritäre Politik und die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit richten", schreibt die Zeitung. Die überwiegende Mehrheit der Demonstranten habe es satt, dass ihnen ein Weltbild aufdrückt werde. "Sie wollen eine neue demokratische Kultur. Polizeiaktionen wie am Dienstag führen dazu, dass der Konflikt weiter eskaliert. Um keine Bilder von einem türkischen Bürgerkrieg zu sehen, sollte sich Erdogan schleunigst besinnen."
Erdogan habe nicht erkannt, dass er sich an einer der wichtigsten Wegmarken seiner Herrschaft befinde, meint die Stuttgarter Zeitung. "Immer mehr Menschen sind mit dem Regierungsstil des Premiers nicht mehr einverstanden. Erdogan ist zwar von der Mehrheit der Türken gewählt worden, das heißt aber nicht, dass er nun dem ganzen Land seine Sicht der Dinge aufzwingen darf", warnt das Blatt. "Erdogan handelt wie die Regierungschefs vor ihm, die das Land als ihren Besitz angesehen und auch so verwaltet haben. Die Proteste und die Reaktion vieler Türken darauf zeigen aber, dass die Gesellschaft des Landes in Sachen Demokratie weiter ist als die Regierenden."
Die Nürberger Nachrichten zeigen sich besorgt, dass ausgerechnet am Tag vor Gesprächen zwischen der Protestbewegung und dem Premier die Polizei auf den Istanbuler Taksim-Platz vorgerückt sei. Damit werde eine große Chance für eine Entspannung der Lage vergeben. "Regierungschef Erdogan hat damit viel von seiner Glaubwürdigkeit im Umgang mit der Protestbewegung verspielt. Das ist nicht nur schlecht für die Türkei, sondern auch für ihr Verhältnis zu Europa."
Auch der Mannheimer Morgen glaubt, dass die Ereignisse in der Türkei sie weiter weg von einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union bringen. "Die Blutspuren führen zu Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und einer brutal vorgehenden Polizei", heißt es dort. Auf der Strecke blieben dabei Versammlungs- und Meinungsfreiheit in einem Staat, der zahlreiche Journalisten ins Gefängnis geworfen habe. "Auf ihrem langen Weg in Richtung Europäische Union wirft das die Türkei erheblich zurück. Wer jetzt meint, bei einer vollzogenen Mitgliedschaft mehr Druckmittel in der Hand zu haben, stellt die Reihenfolge auf den Kopf: Zuerst muss die Türkei ihre volle EU-Reife beweisen. Das gehört zur Aufgabe einer modernen Zivilgesellschaft."
Dagegen sieht die Berliner Zeitung in den Protesten eine Chance für die Türkei: "Dank Erdogan gewinnen nun hierzulande jene Politiker wieder Auftrieb, die in der Türkei ein muslimisch-asiatisches und deshalb europauntaugliches Land sehen und ihr - dies kaschierend - eine privilegierte Partnerschaft anbieten", schreibt sie. "Die erstarkende Zivilgesellschaft aber, die sich dem Sultan von Ankara widersetzt, straft sie Lügen. Die Türkei ist nach diesen zwei Wochen jedenfalls eine andere geworden."
Quelle: ntv.de