Der Fall Jörg Kachelmann Ein "Lehrstück" voller Rätsel
29.07.2010, 20:54 UhrWetterexperte Jörg Kachelmann ist aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Die Begründung: kein dringender Tatverdacht. Der Fall bleibt rätselhaft. Die Presse ist jedoch weniger an der Schuldfrage interessiert als vielmehr an der Bericherstattung und am Umgang der Öffentlichkeit mit einem prominenten Verdächtigen.
Für die Pforzheimer Zeitung hat sich die Justiz "bis auf die Knochen blamiert". "War es notwendig, den bis dahin unbescholtenen Kachelmann wie einen Top-Terroristen zu verhaften und ihn dann monatelang einzusperren? Bestand ernsthaft die Gefahr, Kachelmann würde in die Schweiz flüchten, um sich der deutschen Justiz zu entziehen wo er doch in Deutschland beste Geschäfte macht? Nach dem, was die Öffentlichkeit heute weiß und was die Ermittler schon vor ihrem Zugriff hätten wissen müssen wurde hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen."
Die Rhein-Zeitung stellt sich die Frage, ob Jörg Kachelmann "unabhängig von der Schuldfrage Opfer seiner Popularität" wurde: "Eine Soko Flughafen bereitet im März akribisch die Festnahme vor. Bei der Rückkehr Jörg Kachelmanns aus Kanada klicken medienwirksam die Handschellen. Wie wäre in einem gleich gelagerten Fall gehandelt worden, wenn der Verdächtige Max Mustermann geheißen hätte? Hat die Justiz hier wirklich nur die Sache verfolgt? Oder hat sie vielleicht bewusst oder unbewusst zu sehr den Prominenten und das Scheinwerferlicht im Auge gehabt, und vor Ermittlungsergebnissen die Augen verschlossen?"
"Der Fall Kachelmann wirft Fragen auf, denen man sich kaum entziehen kann", schreibt die Rostocker Ostsee-Zeitung. Allerdings zielen ihre Fragen in eine andere Richtung - die nach dem Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit: "Darf man vor der Kamera als der nette Sonnenschein-Verkäufer auftreten und dann im wahren Leben jemand völlig anderes sein? Dürfen persönlicher Wille und öffentliche Vorstellung auseinander fallen? Ja, dürfen sie. Es geht niemanden etwas an, was man privat macht, denkt oder fühlt. Darauf hat die Öffentlichkeit keinen Anspruch, dafür hat sie nicht bezahlt. Auch im Fall Jörg Kachelmann nicht. Wenn sich allerdings alles nur als Fassade erweist, als marktgerechtes Image, und darüber Engagements oder Werbeverträge platzen, muss man sich die Klage der Betroffenen nicht anhören. Dann ist auch das Privatsache."
Für die Heilbronner Stimme ist der "Fall Kachelmann (...) zu einem Lehrstück geraten, wie Boulevardmedien mit Vorverurteilungen besonders bei gestrauchelten Prominenten arbeiten". Und in welchem Spannungsverhältnis Stars stehen - nämlich in dem zwischen Persönlichkeitsrecht und der gebotenen und stets zu schützenden Presse- und Informationsfreiheit. Sicher müssen sie sich mehr gefallen lassen als Normalbürger. Allerdings sollte bei einem solch schweren Delikt wie Vergewaltigung die Berichterstattung vorsichtiger sein. Denn noch immer ist dieser Fall voller Rätsel, auf die es bislang keine Antworten gibt."
"Ist die Justiz verrückt? Sind die Organe der Rechtspflege schizophren? Kann und darf es sein, dass das eine Gericht einen dringenden Tatverdacht sieht und das andere nicht? Ist ein Verdächtiger der Willkür ausgeliefert? Oder hatte das Oberlandesgericht andere, bessere Erkenntnisquellen?" Die Süddeutsche Zeitung fasst die Fragen zusammen, die sich vielen im Zusammenhang mit den Vergewaltigungsvorwürfen gegen Jörg Kachelmann aufzudrängen scheinen. Und beantwortet sie mit betonter Sachlichkeit: "Nein. Die Richter des Landgerichts und die Richter des Oberlandesgerichts hatten die allergleichen Akten mit den allergleichen Zeugenaussagen und den allergleichen Gutachten als Grundlage für ihre Haftentscheidung. Die Gerichte haben sie nur jeweils anders bewertet. Das ist höchst unschön, vor allem für den Betroffenen; aber das kommt vor." Ein Richter sei ein Mensch in Robe und kein Automat, und wenn er sich nicht sicher sei, "wenn er hin und her schwankt, dann muss er den potentiellen Täter erst einmal entlassen, weil dann zwar ein Tatverdacht da ist, aber kein dringender". Das Blatt aus München findet: "So ist es Recht, und so ist es jetzt geschehen. Es hätte früher geschehen sollen."
Quelle: ntv.de, Zusammengestellt von Nadin Härtwig