Ausländische Presse zur Präsidentenwahl "Eine schallende Ohrfeige"
01.07.2010, 13:55 Uhr
Merkel ist "unsanft auf den Boden der Tatsachen" gefallen und Wulff nicht der Präsident, "nach dem sich die Deutschen sehnen".
(Foto: dpa)
Die Bundespräsidentenwahl kennt eine großer Verliererin: Angela Merkel. Die ausländischen Kommentatoren sehen die Führungsposition der Kanzlerin in Frage gestellt, die Wulff als Staatsoberhaupt durchboxte. Der sei im Übrigen nicht der richtige Mann. Besser hätte er sich als Österreichs Kanzler gemacht.
Die Probleme der Regierung werden nicht weniger, urteilt das Luxemburger Wort: "Angela Merkel und ihre schwarz-gelbe Koalition werden nicht um die Erkenntnis herumkommen, dass der Verlauf der Wahl ein herber Schlag, eine schallende Ohrfeige für die Bundeskanzlerin war. (...) Daher hat der gestrige Tag die Autorität von Kanzlerin und Regierung arg in Mitleidenschaft gezogen. Einer Regierung, die bisher nicht wirklich Tritt fassen konnte, die gelähmt ist von fehlenden Antworten in wichtigen Sachfragen, von Rücktritten hochrangiger Politiker, von außenpolitisch und wirtschaftlich nicht immer sicheren Entscheidungen. Der neue Bundespräsident wird wohl nicht in dem Maße geschwächt sein, wie es der gestrige Tag vermuten lässt. Der Koalition in Berlin hingegen dürften schwierige Zeiten ins Haus stehen."
Der Corriere della Sera sieht vor allem Kanzlerin Merkel durch die Bundespräsidentenwahl geschwächt: "Angela Merkel wurde bei der Bundespräsidentenwahl wie nie zuvor politisch gedemütigt. Wenn es denn überhaupt notwendig gewesen wäre, so war dies der fehlende Beweis, um die Krise ihrer Mitte-Rechts-Mehrheit zu illustrieren. (...). Die Frau, die immer siegte, die jedes Unwetter überstehen konnte und die unterschiedlichsten Bündnisse mit Leichtigkeit zu führen wusste, war dieser neunstündigen Wahl ausgesetzt - und sie muss jetzt, erstmals seit der Übernahme der Regierungsverantwortung zeigen, dass sie Führungsqualitäten auch in schweren Augenblicken hat. Das Leben wird für sie in den kommenden Wochen nicht leicht sein: Es gab an dem Tag der Wahl Anzeichen des Wankens in ihrer Regierungskoalition."
Laut polnischer Tageszeitung Rzeczpospolita hat Merkel für die Durchsetzung Wulff einen hohen Preis gezahlt: "Ein Teil ihrer Partei meuterte und im Streit mit dem Koalitionspartner FDP wurde eine weitere Front eröffnet. Nicht auszuschließen ist, dass der Preis weiter steigen wird - die Diskussion über den Verlauf der Präsidentenwahl kann Merkels Führung in der CDU und in der Regierung in Frage stellen."
Die Neue Züricher Zeitung benennt die drei Hauptursachen, die zu den Schwierigkeiten bei der Wahl Wulffs geführt haben: "Zum Ersten sind sie Ausdruck der enormen Wertschätzung für Gauck im Lager der Koalition. Zum Zweiten artikulierte sich Unmut darüber, dass Merkel nicht den Mut hatte, auf das Angebot der Opposition einzugehen, Gauck gemeinsam zu küren. Und drittens war die Wahl ein Ventil für kritische Christlichdemokraten und Liberale, die unglücklich sind über den Regierungsstil Merkels und die Gelegenheit nutzten, dies anonym, aber wirkungsvoll kundzutun."
Der liberale Standard aus Wien spekuliert über, wie die Wahl mit einer anderen Kandidatin ausgegangen wäre: "Man wird es niemals wissen, aber eine Kandidatin Ursula von der Leyen wäre wohl im ersten Wahlgang zur ersten Bundespräsidentin Deutschlands gewählt worden, zumal sich für sie auch die SPD erwärmen hätte können. Die deutsche Kanzlerin aber setzte stattdessen auf Wulff - nicht weil sie von seinen Qualitäten so überzeugt war, sondern weil sie ihn, ihren allerletzten Konkurrenten, nach Berlin wegloben wollte." Das zeige, dass der Kanzlerin kein Gefühl mehr für die Stimmung unter den eigenen Leuten habe. Jetzt sei sie "sehr unsanft auf den Boden der Tatsachen geholt worden und ihre Autorität ist so schwer angeschlagen wie noch nie zuvor."
Die Wiener Presse stellt fest, dass Wulff nicht der richtige Bundeskanzler sei, sondern sich für ein ganz anderes Amt bestens eigne: "Das Manko des Mannes, der die Qualifikation fürs österreichische Kanzleramt hätte (gute Verbindungen zum Boulevard und den Ruf als "Traum aller Schwiegermütter"), ist ein ganz anderes. Er ist schlicht nicht die Art Präsident, nach dem sich die Deutschen dieser Tage sehnen. Das zeigen die hohen Zustimmungsraten, die Köhler genoss, das zeigt auch der Enthusiasmus, mit dem Wulffs Gegenkandidat Joachim Gauck zu einer Art Spree-Obama hochstilisiert wurde." Die Politikverdrossenheit, die durch die Wahl offensichtlich wurde, hält das eher konservative Blatt aus Österreich für ein europaweites Symptom: "Die Volksparteien erodieren bei Wählerzuspruch und Mitgliederzahlen, die Nichtwähler sind die einzig stabil wachsende Gruppe. Horst Köhler war so beliebt im Volk, weil er - obwohl CDU-Mitglied - kein Mann des (partei)politischen Betriebs war und das glaubwürdig vermittelte, indem er auch jene, denen er seinen Job verdankte, nicht von Kritik verschonte."
Quelle: ntv.de, Zusammengestellt von Katja Sembritzki