Live-Schlichtung zu Stuttgart 21 "Milliardenprojekt wird zum Lernprojekt"
22.10.2010, 21:17 UhrDas Zeitalter der Mediendemokratie ist um eine Variante reicher. Mehr als sechs Stunden lang wurden in Stuttgart Argumente ausgetauscht - live und in Farbe. Wenig Spektakuläres ist dabei herausgekommen, urteilt die Presse.
Erstmals wurden die Schlichtungsgespräche zu Stuttgart 21 live übertragen. Das sei vorerst zwar einmalig, aber am Ende des Tages auch mit wenig spektakulären Erkenntnissen, urteilen die Westfälischen Nachrichten. Das Milliardenprojekt wird so "zum Lernprojekt für Politik, Bürger und Betreiber in diesem Falle die Bahn. Weil es keinen Mittelweg, weil es keine Einigung geben kann, werden Rechtsstaat- und Demokratieprinzip auf eine Bewährungsprobe gestellt." Beides sei elementar für den Zusammenhalt der Bürgergesellschaft, resümiert das Blatt aus Münster. Der Rechtsstaat sei bei Stuttgart 21 ohne Zweifel zum Zug gekommen. "Auf der Strecke aber blieb das Vertrauen der Bürger. Hier gilt es, die Weichen zu stellen. Eine neue öffentliche Debattenkultur könnte für künftige Großprojekte richtungweisend werden."
Die Badische Neueste Nachrichten sehen eine gute Chance, junge Leute für die aktive Politik zu gewinnen: "Zum ersten Mal wird ein komplexes Thema öffentlich diskutiert und den Bürgern genug Intelligenz zugetraut, sich nach Sichtung und Abwägung aller Fakten eine eigene Meinung zu bilden. Dabei werden zur Übertragung nicht nur das Fernsehen sondern auch moderne Kommunikationswege wie das Internet genutzt. Ein guter Ansatz, der dazu geeignet ist, auch die Generation Facebook davon zu überzeugen, sich in Zukunft aktiv am politischen Geschehen zu beteiligen."
Schlichter Heiner Geißler wolle den Leuten weismachen, alles sei nur eine Frage der Transparenz, schreiben die Kieler Nachrichten und urteilen: "Das ist eine Illusion. Denn das setzt voraus, dass alle Beteiligten die Informationen unvoreingenommen bewerten. Das tun sie natürlich nicht, denn beide Seiten sind von ihren jeweils eigenen Interessen geleitet. Die werden nicht durch Geißlersches Handauflegen einfach verschwinden."
Auch die Rhein-Neckar-Zeitung zweifelt am Erfolg der Live-Schlichtung: "Ob die öffentliche Schlichtung, die Heiner Geißler im Geist der intellektuellen Redlichkeit und der allgemeinen Verständlichkeit betreibt, erfolgreich sein kann, darf bezweifelt werden. Sofern man unter Erfolg nur den Sieg des Protestes gegen das Projekt, diesmal am Runden Tisch meint. Erfolgreich ist der Versuch aber jetzt schon, weil er die Überlegenheit des Dialogs gegenüber der Konfrontation beweist. Das verpflichtet beide Seiten, nicht mehr in jene Form der Erregungsdemokratie zurückzufallen, die schon hysterische Züge trägt."
Angesichts des Rummels um den runden Tisch zu Stuttgart 21 fragt sich das Badische Tagblatt, wer eigentlich daraus Nutzen zieht und kommt zu dem Schluss: "Am ehesten vielleicht noch Heiner Geißler, der am Abend seines politischen Lebens noch einmal ein paar spektakuläre Auftritte hat die man ihm durchaus gönnen kann. Das hätte man sich als politischer Beobachter auch nicht träumen lassen, dass aus dem Kettenhund Helmut Kohls noch einmal ein altersweiser Friedensengel werden könnte. Von allen politischen Kräften im Land ziehen allein die Grünen einen direkten Nutzen der Scharmützel um Stuttgart 21. Vor allem Boris Palmer, der grüne Tübinger Oberbürgermeister, dürfte sich gestern in den eigenen Reihen wieder einmal für höhere Aufgaben empfohlen haben."
Auch die Kollegen von der Frankfurter Neue Presse finden lobende Worte für Geißler: "Zornige Bürger sind mächtig, wie man sieht. Heiner Geißler hat das begriffen. Seine nachträgliche Inszenierung einer öffentlichen Debatte, sagt er selbst, hätte eigentlich am Anfang des Bahnhofsprojekts stehen müssen. Bürgerbeteiligung ist das neue Zauberwort, selbst die Kanzlerin hat es plötzlich entdeckt. Wenn sie wissen will, wie so was geht, könnte sie sich in Hessen schlau machen: Das Riesenprojekt Flughafen-Ausbau wird hier ohne Massenproteste vollzogen dank der umfassenden Mediation, die den Grundkonflikt zwischen wirtschaftlichen Interessen sowie Umwelt- und Lärmschutz auf friedliche Weise ausgeglichen hat."
Der Kommentator der Hessischen-Niedersächsischen Allgemeine hat für die Live-Schlichtung nur Häme übrig: "Der Streit um den unterirdischen Durchgangsbahnhof in Stuttgart wäre gar nicht erst aufgekommen, wenn dieses Land endlich wüsste, was es mit seiner Bahn will. Wollen wir ein Hochgeschwindigkeitsnetz, das seinen Namen verdient? Oder wollen wir eine kuschelige Halbhochgeschwindigkeitsbahn behalten, die sich an Milchkannenstopps wie Montabaur und Limburg ständig selbst ausbremst? Am liebsten hätten wir natürlich beides: die schnellsten Züge der Welt und an jeder Ecke einen Bahnhof. Auch wer diesen Idealzustand erreichen will, braucht einen Plan, muss Prioritäten setzen und sie glaubhaft vermitteln. Davon sind wir weit entfernt. Statt zu planen, macht sich jetzt das Land einen Kopf um einen Kopfbahnhof. Und feiert das als Fernsehpremiere."
Quelle: ntv.de, Zusammengestellt von Diana Sierpinski