Schuldspruch gegen Chodorkowski Russland wieder durchgefallen
27.12.2010, 20:23 UhrDer frühere Yukos-Chef Michail Chodorkowski ist im zweiten Prozess wegen Unterschlagung erneut schuldig gesprochen worden. Die Presse hat kein anderes Urteil in einem Gerichtsverfahren erwartet, das sie als ein politisches bewertet. Chodorkowski muss für seinen Mut büßen, Machthaber Putin herausgefordert zu haben. Russland hat den Rechtstaatlichkeitstest abermals nicht bestanden.
"Russland ist, wie selbst Präsident Medwedjew in vielen Reden geklagt hat, kein Rechtsstaat. Und trotz seiner Ermahnungen dürfte sich das so bald nicht ändern", glaubt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. "Für die Mächtigen gilt so gut wie kein Gesetz; einfache Leute dagegen fallen leicht der Korruption und der Willkür der Behörden zum Opfer. Die Chodorkowskij-Prozesse symbolisieren aber mehr als diese tagtägliche Rechtlosigkeit. Denn anders als die typischen Oligarchen, die bei der Privatisierung kommunistischen Staatseigentums unvorstellbar reich wurden und nun in London im Exil leben oder sich dort neben anderen Extravaganzen einen Fußballklub leisten, hat Chodorkowskij es gewagt, den Machthaber Putin politisch herauszufordern. Dafür vor allem muss er büßen."
Die Frankfurter Rundschau hat kein anderes Urteil erwartet: "Schuldig, selbstverständlich. Ein Chodorkowski-Freispruch wäre geradezu systemwidrig gewesen angesichts der Ordnung, in der sich Russlands Justiz, Russlands Politik, Russlands Wirtschaft und Russlands Gesellschaft derzeit befinden. Rechtsstaat und Demokratie? Das zu erreichen bedarf einer neuen Umwälzung der Verhältnisse. Chodorkowskis Unfreiheit ist die Unfreiheit der russischen Gesellschaft. Die rührend zahme Schelte des Präsidenten Dmitri Medwedew an Putins Eingriff ins schwebende Verfahren nützt nicht einmal zur Korrektur der Fassade."
Landshuter Zeitung/Straubinger Tagblatt beurteilen die Kritik Medewedews an der Einmischung Putins anders: Es hatte "in letzter Zeit hoffnungsvolle Signale gegeben. Präsident Dmitri Medwedew hatte mehrfach die Einhaltung demokratischer Spielregeln angemahnt und Kritik am russischen System geäußert. Bemerkenswert scharf hat er Putin nach dessen öffentlichem Hinweis im Fall Chodorkowski attackiert." Bislang sei es jedoch bei Worten geblieben. "Der Präsident von Putins Gnaden hat nicht die Kraft, die Zustände im Land zu verbessern." Mit dem Urteil sei Russland "abermals bei einem Rechtsstaatlichkeits-Test durchgefallen".
"Dieser Schuldspruch war genauso absehbar wie die durch ihn ausgelösten westlichen Protestnoten Richtung Kreml. Belehrungen lupenreiner Demokraten sind dennoch sinnlos, denn die Putin-Clique hat gar nicht die Absicht, aus dem Riesenreich einen Rechtsstaat zu machen. Dem Kreml reicht eine Potemkinsche Justiz. Nach der Verfassung sind Russlands Richter unabhängig. De facto dienen sie Interessen", kommentiert die Landeszeitung aus Lüneburg und spart nicht mit einem Seitenhieb auf die Kritiker: "Allzu moralisierende Kritik sollte sich der Westen aber verkneifen, denn auch seine Außenpolitik ist interessengeleitet. Auch ein autoritär regiertes Russland bleibt ein entscheidender Eckpfeiler der Strategie des Westens - als Ressourcenlieferant wie als Gegengewicht gegen China."
"2012 sind Präsidentschaftswahlen. Putin will offenbar die ganze Macht von Medwedew zurück. Und keine wirkliche Konkurrenz: Chodorkowski, der populäre, gerade durch die stoisch ertragene Haft charismatische Förderer von Demokratie, Rechtsstaat und wirtschaftlicher Öffnung - er wäre, das weiß Putin, ein sehr ernst zu nehmender Herausforderer." Die Nürnberger Nachrichten glauben: "Auch deshalb sitzt er noch in Haft, wenn Putin an den Ausbau seiner Macht geht. Ein Staat aber, der Öffnung derart fürchten muss, ist zwar stark, weil er über Militär, Polizei und Justiz verfügt und Regimegegner teils brutal bekämpft. Letzlich aber zeigt er enorme Schwäche: Angst vor jener Freiheit, für die gerade der ihrer beraubte Chodorkowski beeindruckend einsteht."
Quelle: ntv.de, Zusammengestellt von Nadin Härtwig