Gesundheitsreform Vorkasse zerstört das Gemeinwohl
29.09.2010, 22:17 Uhr
Rösler spaltet nach Meinung der Kommentatoren die Gesellschaft.
(Foto: picture alliance / dpa)
Mit der Gesundheitsreform sollen gesetzlich Versicherte stärker belastet werden. Nun will Minister Rösler zudem, dass Kassenpatienten ihren Arzt häufiger selbst zahlen - und erst dann das Geld von der Kasse bekommen. Die Kassen lehnen die Pläne ab. "Vorkasse heißt, dass den Ärzten der direkte Griff in die Portemonnaies ihrer Patienten ermöglicht wird", sagte ein Sprecher des Verbandes. "Wenn kranke Menschen zum Arzt gehen, dann sollen sie sich nicht erst fragen müssen, ob ihr Geld reicht, um in Vorkasse gehen zu können."
Die Idee, gesetzlich Versicherte beim Arzt in Vorkasse treten zu lassen, macht die Behandlung beim Arzt nicht gerade transparenter. "Der medizinische Laie wird sich immer auf den Rat des Fachmanns verlassen müssen", schreibt das Hamburger Abendblatt. "Dieses Vertrauensverhältnis wird durch verlockende Inkassomöglichkeiten für den Arzt bestimmt nicht gestärkt. Und für den Kranken drohen eine neue Kostenfalle und permanenter Ärger mit der Versicherung. Oder eine weitere Leistungsminderung durch längere Wartezeiten bei Zahlungsverweigerung oder -unvermögen."
Für den Schwarzwälder Boten steht fest: "Was Schwarz-Gelb bislang in Sachen Gesundheit zu Wege gebracht hat, kann es noch nicht gewesen sein. Eine bloße Beitragserhöhung wäre arg dürftig für die Erwartungen, die der liberale Senkrechtstarter Philipp Rösler vor einem Jahr geweckt hat. Folgerichtig legt der Minister jetzt nach: erst mal ein Projekt Vorkasse, irgendwann ein viel freieres Spiel von Angebot und Nachfrage beim Gesundheitsschutz. Dieses hätte dann mit der heutigen Struktur gesetzlicher Kassen in etwa so viel zu tun wie einst ein Kassengestell mit einer modisch-schicken Brille. Aber halblang. Diese Gedankenspiele erlaubt sich der Parteipolitiker Rösler, der Minister Rösler weiß nur zu gut, dass ein Komplettumbau des Gesundheitssystems mit dem Koalitionspartner nicht zu machen ist. Schon die Vorkassen-Regelung stößt auf Skepsis. Berechtigterweise. Wer zum Arzt geht, will nicht zuerst ans Geld denken müssen."
"Die Spritze soll es nach Röslers Willen nur gegen Bares geben. Die Geldkarte tut's natürlich auch", witzelt der Kommentator der Lübecker Nachrichten. "Sein Argument, die Patienten sollten volle Transparenz über die Behandlungskosten erhalten, klingt gut, offenbart aber bei Lichte besehen viele unangenehme Nebenwirkungen. Die Vorkasse erspart weder dem Patienten noch dem Arzt Kosten. Der Patient muss im Gegenteil das verauslagte Honorar auf bürokratischem Wege von der Kasse zurück holen. Röslers Schnapsidee leistet einer Drei-Klassen-Medizin Vorschub, neben privaten würde es gesetzlich Versicherte mit Vorauskasse und zuletzt die Holzklasse geben."
Die Westdeutsche Zeitung macht es kurz und bringt es auf den Punkt: "In der Gesetzlichen Krankenversicherung darf es keine Zwei-Klassen-Gesellschaft geben - hier 90, da 100 Prozent Erstattung. Eine Neuordnung darf auch nicht zu mehr Bürokratie führen."
Für die Wetzlarer Neue Zeitung wirft Röslers Modell Fragen auf: "Wer erklärt der alleinstehenden Rentnerin mit kleinem Budget, dass sie künftig Rechnungen ihres Arztes erhalten wird und wie sie damit umzugehen hat? Wie lässt sich verhindern, dass ein Patient mit geringem Einkommen das von seiner Krankenkasse gezahlte Arzthonorar einfach für sich behält? Und wie lässt sich verhindern, dass Ärzte künftig ihre Patienten nach deren Bonität auswählen?"
"Wer nach der Behandlung erst einmal den Geldbeutel zücken und Vorkasse leisten muss, der rennt nicht wegen jedem Wehwehchen zum Arzt. Soweit die Theorie. Die Praxis sieht aber anders aus" schätzt der Südkurier ein. "Privatpatienten strecken zwar auch vor, aber sie erhalten dafür in der Regel eine bevorzugte Behandlung. Kassenpatienten können davon nur träumen. Daran wird auch die Vorkasse nichts ändern. Im Gegenteil, Patienten aus bescheideneren Verhältnissen werden erst einmal einen Blick auf ihren Kontoauszug werfen und sich den Papierkrieg mit ihrer Krankenkasse vorstellen, bevor sie sich zum Arzt trauen. Das kann nicht Sinn und Zweck einer Gesundheitsreform sein."
Quelle: ntv.de, Zusammengestellt von Peter Richter