Pressestimmen "Zeitpunkt verpasst"
17.02.2012, 07:37 UhrDie Affäre um Bundespräsident Christian Wulff hat eine neue Qualität bekommen: Nun sind es nicht mehr nur Medien und Politikerkollegen, die Zweifel an der Gesetzestreue und menschlichen Integrität des ersten Mannes im Staate haben, sondern auch die Justiz. Um ermitteln zu können, beantragt die Staatsanwaltschaft Hannover die Aufhebung der Immunität Wulffs beim Bundestag. Die Rufe nach seinem Rücktritt wird der Niedersachse im Schloss Bellevue nun wohl kaum mehr überhören können. Rufe wie etwa den von Wolfram Neidhard von n-tv.de, der meint: "Besitzt der 52-Jährige noch einen Rest von politischem Gespür, muss er sein Amt jetzt aufgeben. Den richtigen Zeitpunkt dafür hat er ohnehin schon verpasst."
Ähnlich vernichtend ist da auch das Urteil des Tages-Anzeiger aus Zürich: "Es hat sich ein schmieriges Bild von ihm in der Öffentlichkeit eingebrannt, eines, das gar nicht passt zum höchsten Amt im Staat. Dies wird zunehmend zum Problem." Die Schweizer Kollegen wollen zudem wissen, dass es Kanzlerin Merkel sogar gelegen komme, dass Wulff in solch schlechtem Licht dasteht - "ihr eigenes Licht strahlt dafür umso heller". Den Präsidenten habe sie ohnehin schon fallengelassen, "weil sie fürchte, das negative Image des Staatsoberhauptes könne auf sie abfärben."
Das Darmstädter Echo beklagt, dass Wulff den "Zeitpunkt verpasst" hat, "mit einem rechtzeitig erklärten Rücktritt halbwegs anständig und ehrenhaft aus der Affäre herauszukommen." Dass er weiterhin versuche, den Konsequenzen seines Fahlverhaltens zu entkommen, indem er sich wegduckt, sei nun völlig undenkbar. "Mit seinem Rücktritt kann er wenigstens dem Amt die Würde wiedergeben."
Die Stuttgarter Zeitung bescheinigt Wulff ein "ausgesprochen taktisches Verhältnis zur Wahrhaftigkeit". Dies belegten seine Rechtfertigungsversuche und seine Bekundungen eines halbherzigen Bedauerns. "Wulff ist das Opfer notorischer Schwächen. Für den Schaden haftet das ganze Land. Auch die Kanzlerin, die im Moment noch größte Popularität genießt, wird davon nicht verschont bleiben."
Auch in Wulffs Heimat Niedersachsen schwindet der Rückhalt. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung betont zwar, auch für den Bundespräsidenten gelte das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung. "Politisch entscheidend ist aber nicht die Frage, ob Wulff am Ende ein Strafurteil bekommt. Entscheidend ist, ob er noch zum Bundespräsidenten taugt. Und diese Frage ist spätestens jetzt mit Nein zu beantworten. Ein Bundespräsident muss, ohne dass jemand kichert, ans Podium treten und zum Beispiel vor einer Gesellschaft warnen können, in der jeder immer nur an seinen eigenen Vorteil denkt." Es sei das doppelte Drama des Präsidenten, dass er erstens seine politische Autorität verloren und dies zweitens nicht bemerkt hat.
Die Rhein-Neckar-Zeitung wünscht sich, Wulff wäre nie Präsident geworden. Da er es aber nun einmal ist, hätte er "sofort zurücktreten müssen, als die wahren (?) Umstände seines Privatkredits bekannt wurden." Die "gelinde gesagt unglaubwürdige Erklärung, Wulff habe seinem Freund Groenewold einen Hotelurlaub in bar beglichen, sie dürfte dem 'obersten Schnäppchenjäger' der Republik das Amt kosten. Das dazu allerdings erst ein (mutiger) Staatsanwalt ein Zeichen setzen muss, spricht Bände. Leider über den Amtsinhaber, der seinem Amt binnen weniger Wochen größten Schaden zugefügt hat.
Quelle: ntv.de, zusammengestellt von Johannes Graf