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Hessen Polizei-Experte: "Gewalt kann sich verselbstständigen"

Was bringt Polizisten dazu, Grenzen zu überschreiten? Ein Kriminologe erklärt, warum Gruppendynamik und Loyalität zum Problem werden können – und was sich ändern ließe.

Frankfurt/Main (dpa/lhe) - Gewalterfahrung als Berufsalltag, extreme Loyalität oder Gruppendynamik: Rechtswidrige Polizeigewalt hat nach Experteneinschätzung vielschichtige Ursachen, die durch die besonderen Aufgaben und Befugnisse der Beamten begünstigt werden können.

"Immer dann, wenn polizeiliche Maßnahmen auf andere Art und Weise nicht mehr durchgesetzt werden können, darf die Polizei in verhältnismäßiger Weise Gewalt einsetzen", erläutert der Frankfurter Rechtswissenschaftler Tobias Singelnstein. Das sei zwar eine Ausnahmebefugnis, gehöre jedoch zum Joballtag. "Und das bringt die Gefahr mit sich, dass sich eine solche Praxis der Gewalt verselbstständigen kann", sagt Singelnstein, der an der Goethe-Universität Frankfurt die Professur für Kriminologie und Strafrecht innehat und unter anderem zum Polizeiwesen forscht.

Überforderung kann Rolle spielen

Derzeit beschäftigt ein Fall mutmaßlicher Polizeigewalt Ermittler in Frankfurt: Am Freitag wurden Vorwürfe gegen 17 Beamtinnen und Beamte des 1. Frankfurter Polizeireviers bekannt. Sie sollen mehrfach während oder nach Festnahmen entweder selbst gewalttätig geworden sein oder weggeschaut haben. Es geht um mutmaßliche Körperverletzung und Strafvereitelung im Amt sowie die Verfolgung Unschuldiger. 

Bei unzulässiger Polizeigewalt komme eine "riesengroße Bandbreite" von Hintergründen in Betracht: "Das reicht von Fällen, in denen überforderte Beamte vielleicht einen Schlag zu viel setzen, bis hin dazu, dass sich rechtswidrige Gewaltpraxen in Dienstgruppen verselbstständigen", sagt der Experte mit allgemeinem Blick auf solche Vorfälle. 

Zusammenhalt im Alltag

Gruppendynamik kann eine Rolle bei Gesetzesübertritten von Polizisten spielen, wie Singelnstein weiter allgemein ausführt. Eine Dienstgruppe ermögliche einen engen sozialen Zusammenhalt im Polizeialltag. "Diese Verbundenheit kann dann dazu führen, dass die ganze Dienstgruppe in eine bestimmte Richtung abdriftet." 

Der starke Zusammenhalt oder eine Art Corpsgeist erschwerten unter Umständen auch die Aufklärung bei Fehlverhalten. "Es gibt so eine ungeschriebene Regel, dass man im Prinzip den Kollegen und Kolleginnen nicht in den Rücken fällt, auch wenn sie vielleicht etwas falsch gemacht haben." 

Problembewusstsein gewachsen

Aus Sicht von Singelnstein gibt es mittlerweile eine größere Sensibilität beim Thema Polizeigewalt, weil in den vergangenen Jahren in der Öffentlichkeit sehr intensiv über die Problematik debattiert worden sei. "Und deshalb gibt es, glaube ich, schon ein stärkeres Problembewusstsein in der Polizei heute und es wird auch bei bekanntgewordenen Fällen etwas anders damit umgegangen als es vielleicht früher der Fall war."

Im Fall der Frankfurter Polizisten hat Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) ein hartes Vorgehen und personelle Konsequenzen angekündigt. Zur Vermeidung jeden Anscheins einer nicht unabhängigen Bearbeitung sei die Angelegenheit ans Landeskriminalamt übergeben worden.

Klare Kante bei Fehlverhalten

Generell wichtig sei, so Singelnstein, dass innerhalb der Polizei eine "Entnormalisierung" von Gewalt stattfinde – selbst wenn sie zum Alltag gehört. Sei es, dass die Beamten auf Streife solche selbst erfahren oder als Ausnahmebefugnis anwenden. Regelmäßige interne Fortbildung, Supervision und Reflexion sollten daher Pflicht für Beamtinnen und Beamten sein, meint der Experte. 

Und ganz klar sei auch bei Fällen von Fehlverhalten oder unzulässiger Gewalt: "Das sind einfach Straftaten, die intern nicht geduldet werden dürfen und es auch nicht goutiert werden darf, wenn Leute gedeckt werden."

Quelle: dpa

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