Bolivianisches Reisetagebuch Im Abenteuerland
23.11.2007, 19:08 UhrDas etwas mehr als eine Million Quadratkilometer große Land ist neben Paraguay der einzige Staat Südamerikas, der keinen Zugang zum Meer hat. Das tut der Schönheit Boliviens aber keinen Abbruch. Am Strand lernt man ein Land und seine Menschen nimmer kennen. Gleichwohl ist die fehlende territoriale Verbindung zum Pazifik eines der Traumata dieses Landes. Die Gegend um die Hafenstadt Iquique fiel nach dem Salpeterkrieg 1883 an Chile. Seither ist Bolivien nur noch in neun "departamentos" gegliedert, die sich symbolisch in der Nationalflagge wiederfinden. Der zehnte Stern steht für das verlorene Iquique.
Es sind die Widersprüche und Gegensätze, die Bolivien so reizvoll machen. Beginnt man die Reise in La Paz, Sitz von Regierung und Parlament, in Sucre, der formellen Hauptstadt oder in Santa Cruz de la Sierra, der größten Stadt? Der Reisende entscheidet sich für La Paz, die unbestritten wichtigste Stadt Boliviens. 1548 gegründet, 3.627 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, befindet sich La Paz in einem Canyon des Ro Chokeyapu.
Malerisch ist das "Valle de la Luna", das Mondtal, ein Teil des Canyons. Wind und Regen haben aus der Lehmerde bizarre Erhebungen hervorgebracht. Mit einiger Überredungskunst - und einigen Scheinchen - überzeugt man den dort lebenden Charangospieler, ein Stück auf diesem eigenwilligen Instrument zu spielen, dessen Form an eine kleine Gitarre, dessen Klang an die Ukulele erinnert. Das wehmütige Lied überfliegt das Tal wie die "palomita", das Täubchen, das der Mann besingt. Goethes "Osterspaziergang" mit seiner Zeile vom Menschsein fällt einem ein.
In östlicher Richtung erheben sich die schneebedeckten Gipfel des Illimani, mit 6.439 Metern der höchste Berg der zu den Anden gehörenden Cordillera Real. Die Luft ist dünn.
Je nach Konstitution des Reisenden macht sich die Höhenkrankheit schon ein bis drei Tage nach der Ankunft bemerkbar. Ein Tässchen "mate de coca", ein Teeaufguss aus Kokablättern, hilft aber rasch darüber hinweg.
Der schönste Platz von La Paz ist wohl die Plaza Murillo mit dem Parlamentsgebäude und dem Präsidentenpalast. Hier residiert Evo Morales, der erste indigene Staatschef des Landes, dessen Bevölkerung zu gut 67 Prozent aus Angehörigen des Quechua- und des Aymara-Volkes besteht. Morales ist Sozialist und bemüht sich um die Verbesserung der Lage seiner zumeist in tiefster Armut lebenden Landsleute. Er ist populär und volkstümlich. Als er aus seinem Jeep springt, winken ihm Umstehenden zu. "Evo, Evo"-Rufe ertönen. Das Interview, das sein Presseazessor dem deutschen Journalisten versprochen hat, soll "maana" stattfinden. Doch man muss wissen, dass "maana" im Spanischen nicht nur "morgen", sondern auch "bald" bedeutet.
La Paz ist Ausgangspunkt für einen Besuch von Tihuanaco, oder Tiwanako auf Aymara. Nur 70 Kilometer westlich von La Paz entfernt, braucht der Reisende gleichwohl einen Jeep, der ihn in gut drei Stunden über die holprige Straße in das Nationalheiligtum des Landes bringt. Heuer hat Tihuanaco nur noch gut 800 Einwohner. Zwischen 1500 v. Chr. Und 1200 n. Chr. war es politisches und religiöses Zentrum einer Hochkultur, die zeitweilig über ein Reich herrschte, das von der Küste über die Stadt Cochabamba bis zur heute zu Chile gehörigen Atacamawüste und in das jetzige Argentinien reichte.
Auf einem riesigen Areal finden sich die Reste einer Tempelanlage von gigantischen Ausmaßen. Unzählige Skulpturen, die von einer hohen handwerklichen Kunst ihrer Schöpfer zeugen. Die am meisten beeindruckenden Baudenkmäler sind wohl das Sonnentor und "el fraile", der Mönch, eine übermannshohe Statue. Man kommt sich im doppelten Sinne klein vor daneben. "Der Mönch" in Kleinformat ziert heute den Schreibtisch des Journalisten. Anspruchsvolle Reiseandenken sind hier so billig, dass es einem die Schamröte ins Gesicht treibt. Aber auch ohne Skrupel kann man ein rotes Gesicht bekommen. Tihuanaco liegt mit gut 4000 Metern über Normalnull noch höher als La Paz. Die Sonne ist noch unbarmherziger, eine Flasche Wasser, Creme und ein breiter Sombrero noch unentbehrlicher.
Mitten im Besuch von Tihuanaco klingelt plötzlich das Handy. Der Presseazessor des Staatschefs sagt, das Interview könne in einer Stunde stattfinden. "Hombre", sagt der Reisende, "ich bin in Tiwanako, hast Du einen Hubschrauber für mich?" Er hatte keinen Helikopter, wenngleich die Streitkräfte zu Evo Morales stehen. Weil die Soldaten "indgenas" sind, wie der "presidente", sagt der Azessor. Aber die zumeist weiße und mestizische Generalität wurde an der berüchtigten "Escuela de las Amricas" in der früheren Panamakanalzone ausgebildet. Bolivien hat kürzlich ein Verteidigungsabkommen mit Venezuela abgeschlossen. Nun kommen die Ausbilder nicht mehr aus den "Estados Unidos", den USA. Ob es dem einstigen Gewerkschaftsfunktionär, der nicht nur Indio, sondern auch Bewunderer von Fidel Castro und Ernesto "Che" Guevara ist, hilft?
Einst lag Tihuanaco direkt am Titicacasee. Nach Jahrhunderte langer Verdunstung misst die Entfernung jetzt rund 20 Kilometer. Mit einer Fläche von 8288 Quadratkilometern ist das Süßwasserreservoir der Region fast dreizehn Mal so groß wie der Bodensee. Der Titicaca ist der höchstgelegene schiffbare See der Welt. Eine Hälfte gehört zu Peru, die andere zu Bolivien.
Vor dem Eintreffen fragt Begleiter Sergio Salas den Reisenden, ob er den See schon einmal gesehen hat, was er bejaht: Von Puno aus, auf der peruanischen Seite. "Dann", so antwortet er, "kennst Du ja den schönsten Teil des Sees schon. Von der peruanischen Seite aus kann man die bolivianische nämlich am besten sehen."
Es ist eine nicht sehr ernst gemeinte Rivalität. Leben doch an allen Ufern des Titicaca mit Quechua und Aymara Menschen, die sich als direkte Nachkommen oder Verwandte des legendären Volks der Inka verstehen. Als die Inka in Tihuanaco eintrafen, fanden sie die Stadt schon verlassen vor. Die Inka aber sollen im See ihren Ursprung haben. Dort soll Manco Capac, auf Quechua Manqu Qhapaq, der erste Herrscher des Inkareiches, aus dem See aufgestiegen sein und seine Dynastie begründet haben. Mag's glauben, wer will. Aber schön klingt sie, die Legende.
Wer das tiefe Blau des Titicaca erlebt hat, weiß: Dies ist einer der schönsten Flecken auf Erden. Die Fahrt über den See ist, je nach Jahreszeit, eine wacklige Angelegenheit. Als der deutsche Journalist drüber fuhr, war's ruhig. Aber Sergio weist einem jene Stellen, an denen allzu Mutige ihren Wagemut mit dem Leben bezahlten. Wie gesagt, Bolivien ist das letzte Abenteuer dieser Welt.
Quelle: ntv.de