
Johannes Floors reist mit dem Rückenwind frischer Weltrekorde zur Weltmeisterschaft.
(Foto: IMAGO/Mika Volkmann)
Im Alter von 16 Jahren entscheidet sich Johannes Floors für ein Leben ohne Schmerzen. Er lässt sich seine durch einen Gendefekt deformierten Unterschenkel amputieren. Was er zusätzlich gewinnt: eine wahnsinnige Sportkarriere und ein Leben, mit dem er nicht gerechnet hatte. Eines, für das sein Tag mehr als 24 Stunden haben müsste.
Wenn Johannes Floors in den Startblock steigt, hat er nur einen Job: Sprinten. Volle Konzentration auf das große Ziel: Gold und damit die Titelverteidigung. Bei der Weltmeisterschaft der Para-Leichtathleten in Neu-Delhi ist der 30-Jährige für den Moment nur eines: Spitzensportler. Alle seine anderen Berufe und Berufungen stehen dann still.
Der beidseitig amputierte Prothesensprinter ist der Favorit über die 400 Meter. Er ist der amtierende Weltmeister und fliegt mit ordentlich Rückenwind nach Indien. Im August verbesserte Floors seinen eigenen Weltrekord. "Ich bin sehr froh. Es ist ein super Zeichen, dass es auch mit 30 Jahren nochmal nach oben gehen kann und ich nicht nur mein Niveau halte", sagt er gegenüber ntv.de.
Geradezu pulverisiert hat er seinen alten Rekord, der seit 2019 in den Büchern stand. Um 0,52 Sekunden unterboten auf 45,26 Sekunden. Damit nicht genug, kurz zuvor hatte er schon seinen drei Jahre alten Weltrekord über 200 Meter um 0,4 Sekunden auf 20,29 Sekunden verbessert. Und auch über 100 Meter hätte er es fast gepackt, nur etwas zu viel Rückenwind führte dazu, dass seine Zeit von 10,52 Sekunden nicht seinen bisherigen Weltrekord von 10,54 Sekunden auslöschte. "Natürlich liebäugele ich damit, in ähnliche Sphären zu laufen wie beim Weltrekord. Da ist die 200-Meter-Zeit eine gute Rückendeckung", sagt Floors über sein 400-Meter-Rennen, das am 5. Oktober ansteht. Denn: "Es stirbt sich angenehmer."
Die 200 Meter sind im Laufe der Karriere von Floors aus dem Paralympics- und WM-Programm gestrichen worden. Die 400 Meter sind geblieben. Die Strecke, auf der alle irgendwann "sterben": "Der Hammer bei den 400 Metern, der kommt immer und der kommt auch immer so zwischen 280 und 320 Metern. Aber es fühlt sich angenehmer an, wenn man diesen Puffer von der 200-Meter-Zeit hat", erklärt Floors, warum man für den Langsprint besonders viel Biss benötigt.
Amputation mit 16 Jahren wegen extremer Schmerzen
Am 30. September steht bereits das Finale über 100 Meter an. Trotz seines Weltrekords ist Floors da nicht Gold-Kandidat Nummer eins. Das liegt daran, dass er in einem Rennen mit einseitig Amputierten antritt. "Alle mit nur einer Prothese können viel explosiver und besser starten als ich. Mein Vorteil entwickelt sich hinten raus aus dem Rennen, vielleicht mit einer um einen Tick höheren Endgeschwindigkeit und symmetrischem Laufen", erklärt er. "Aber wenn man alle unsere Bestzeiten vergleicht, dann hätte ich ein Rennen, wo ich ungefähr 95 bis 98 Meter hinterherlaufe."
Seinen Konkurrenten ordentlich Druck zu machen, das ist der ständige Ansporn. Biss hat Floors, das zeigt seine beeindruckende Karriere. Knapp die Hälfte seines Lebens ist es nun her, dass er eine radikale Entscheidung traf. Amputation beider Unterschenkel. Floors war mit einem Fibula-Gendefekt auf die Welt gekommen, Unterschenkel und Füße waren deformiert, Wadenbeine hatte er keine. Dafür ständig extreme Schmerzen. Es blieb mit 16 Jahren nur die Entscheidung zwischen Rollstuhl und weiter Schmerzen oder Amputation und Prothesen.
Er wählte mit der Rückendeckung seiner Familie die Amputation - und begann völlig neu. "Es war die beste Entscheidung meines Lebens", sagt er mit einem Strahlen im Gesicht. "Ich war plötzlich nicht mehr 1,60 Meter, sondern mit den Prothesen 1,80 Meter groß. Ich war plötzlich auf Augenhöhe zu den anderen und ich sah nicht mehr behindert aus. Jetzt habe ich coole Beine, vorher hatte ich, salopp gesagt, deformierte, behinderte Füße."
"Wollte eigentlich nur ein schmerzfreies Leben"
Das Selbstbewusstsein wuchs und es eröffneten sich ganz neue Chancen. "Es ist richtig, richtig schön, auf was ich zurückblicken kann. Ich wollte eigentlich nur ein schmerzfreies Leben, das habe ich erreicht. Alles, was sich dazu im Sport und im Leben entwickelt hat, ist nur die Kirsche auf der Sahnetorte." Dieses Alles fasst er so zusammen: "Ich kann superschnell rennen, ich habe drei Weltrekorde. Ich bin frei, ich kann machen, was ich will. Ich habe durch meine Ausbildung und mein Studium so viel Wissen gesammelt über die Jahre und kann es weiter- und zurückgeben. Das, was ich vor 14 Jahren selbst erfahren habe, darf ich jetzt mit anderen teilen. Das ist einfach was super Schönes."
Floors taucht schnell voll ein in die neuen Möglichkeiten, die ihm seine neuen Beine bieten. Er absolviert das reguläre Sport-Abitur, er absolviert einen Triathlon, vor allem rennt er. Schnell und schneller. Und weil das Sanitätshaus nach der Amputation zu seinem zweiten Zuhause wird, lernt er auch seinen Wunschberuf kennen: Orthopädietechniker. Der Stumpf verändert sich, da muss die Prothese angepasst werden. Für die verschiedenen Sportarten brauchen die zusätzlichen Sportprothesen unterschiedliche Einstellungen. In der Saison kann es nötig werden, verschiedene Federn zu nutzen - analog zu Laufschuhen bei Menschen auf zwei Beinen. "Das ist ein sehr cooler Job. Die Mischung aus dem Handwerk, das mir liegt, gleichzeitig die Biomechanik zu beachten, und mit Menschen zu arbeiten."
Floors ist in seinem Element, wenn er über den Job spricht. Aber weil er so Feuer und Flamme ist, erkennt er auch, was noch verbessert werden kann. Der psychologische Bereich fehlt in der Ausbildung. "Ich würde mir wünschen, dass das Beachtung findet", sagt er und erklärt: "90, 95 Prozent der Amputierten, werden aus einem heilen Leben rausgerissen. Im schlechtesten Fall wachen sie auf, ein Körperteil fehlt und da ist noch ganz viel Anderes mit passiert." Nichts, was man eben auf die Schnelle verarbeiten kann. Klar, es sei nicht die Aufgabe eines Orthopädietechnikers als Psychologe zu arbeiten, aber die seien nun mal mit die ersten, auf die Betroffene treffen. "Und warum sollte man denen dann nicht auch Tools an die Hand geben, um damit besser zurechtzukommen?"
Nicht nur Sprinter, auch Student, Coach, Vorbild
Nach der Ausbildung begann Floors zusätzlich ein Maschinenbau-Studium, ist inzwischen im Master angekommen, will diesen im kommenden Sommer abschließen - auch damit der Blick freier ist in Richtung Paralympics 2028 in Los Angeles. Viel Jonglage ist nötig, um das mit seinem Sport zu vereinbaren. An der Rheinischen Hochschule in Köln, wo er studiert, wird viel Wert auf praxisnahe Vorlesungen gelegt, Präsenz ist da Pflicht. Er kann zwar die Regelstudienzeit ausdehnen, aber im gerade begonnen Semester stehen zwei Projektarbeiten mit eigener Projektplanung, Konstruieren, Dokumentation und Präsentation auf dem Programm. Schon seine Bachelorarbeit absolvierte er beim Medizintechnikhersteller Otto Bock, auch seine Masterarbeit wird dort angesiedelt sein.
Es ist der Hersteller der Prothesen, die er auch selbst trägt. Und der Hersteller, für den er sich neben Sport und Studium auch noch engagiert. Gemeinsam mit seinem Verein TSV Bayer Leverkusen und dem Deutschen Behindertensportverband stellen sie - im wahrsten Sinne - Laufprojekte auf die Beine. Bei den "Talent Days" und den "Running Clinics" können Amputierte Sportprothesen ausprobieren. "Das sind super anstrengende, aber auch sehr bereichernde Wochenenden, aus denen kann ich so lange so viel Energie ziehen." Er ist dann Leiter und Vorbild.
Sport mit Prothese für Kinder und Jugendliche
31. Oktober - 2. November 2025 in Leverkusen
Anmeldungen bis 28. September auf der Website oder: joerg.frischmann@tsvbayer04.de
Floors erzählt begeistert von den Teilnehmern, die alle Muskelkater haben, teilweise wunde Stümpfe, aber unbedingt noch eine Extrarunde laufen wollen, obwohl alles wehtut. "Die Lebensqualität ist, frei entscheiden zu können, ob man laufen gehen will oder nicht." Er denkt dann auch jedes Mal an seine eigenen Anfänge zurück: "Wir hatten alle diesen Moment, in dem wir das erste Mal auf einer Sportprothese standen, dieses neue Gefühl hatten. Diesen Moment, wo man nicht mehr eingeschränkt ist beim Laufen, das ist sowas Schönes."
Allerdings auch etwas, das nicht jedem zuteilwird. Nicht-Amputierte können einfach "in einen Sportladen gehen und Laufschuhe kaufen. Eine Sportprothese kauft sich nicht so schnell. Das ist viel zu viel Geld und unser System sieht gerade nicht vor, dass Laufen gehen für Amputierte zum Standard gehört. Das ist ein Riesenproblem".
Hätte er damals keine Sportprothesen bekommen, wer weiß, was aus Floors geworden wäre. Ein Medaillensammler mit zwei Paralympicssiegen und zwölf Titeln von Welt- und Europameisterschaften jedenfalls nicht. Gut möglich, dass er bei dieser WM mindestens ein weiteres Gold hinzufügt. Nur Sprinter ist Floors dabei ohnehin nicht. Er ist immer auch Botschafter. Dafür, dass aus einer schweren Entscheidung das Beste erwachsen kann.
Quelle: ntv.de