Gravierende Folgen für Spanien Brillanter Weltmeister kollabiert auf unerklärliche Weise
04.09.2023, 07:14 Uhr
In den letzten Minuten brach die spanische Wehrhaftigkeit zusammen.
(Foto: AP)
Welt- und Europameister Spanien muss sich noch vor dem Start der Viertelfinals von der Basketball-WM verabschieden. Trotz lange dominantem Auftreten gegen das kanadische Starensemble und zweistelliger Führung scheitern die Iberer nach einem desaströsen Schlussviertel.
Der spanische Traum von der Titelverteidigung bei der Basketball-WM ist ausgeträumt. Trotz lange dominantem Auftreten gegen das mit reichlich NBA-Talent gespickte Team der Kanadier, sowie mehrfachem hohen Vorsprung, scheitert das Team von Star-Coach Sergio Scariolo schließlich an seiner spielerischen Unerfahrenheit und am Unvermögen in einem weiteren desaströsen Schlussviertel. Am Ende steht eine 85:88-Niederlage.
Wie bereits am Freitag gegen Lettland - das die Underdog-Story dieses Turniers schlechthin schreibt - führen die selbstbewussten Iberer auch gegen die Nordamerikaner lange zweistellig, dominieren mit phasenweise brillant-spektakulärem Basketball an beiden Enden und sehen bereits wie der sichere Sieger aus. Doch dann kommt der unerklärliche Einbruch im letzten Abschnitt, der Spanien einmal mehr die Früchte guter Arbeit kostet. Diesmal jedoch mit weitaus schlimmeren Konsequenzen als noch vor zwei Tagen.
Nach der zweiten Niederlage in Folge in derZwischengruppe L hat sich der amtierende Welt- und Europameister noch vor dem Start der Viertelfinal-Phase ab Dienstag auf den Philippinen aus der WM verabschiedet. Auch die Qualifikation für die Olympischen Spiele 2024 in Paris ist somit erst einmal in weite Ferne gerückt.
Rasante, hart umkämpfte Partie
Vom Sprungball an entwickelt sich am letzten Abend in Jakarta eine rasante, hart umkämpfte und hochklassige Partie auf Augenhöhe. Insgesamt 12 Mal ist sie ausgeglichen, 13 Mal wechselt die Führung. Willy Hernangomez und Alex Abrines (beide FC Barcelona) bei den Spaniern sowie Superstar Shai Gilgeous-Alexander (Oklahoma City Thunder) und RJ Barrett (New York Knicks) bei den Kanadiern drücken dem Geschehen früh ihren Stempel auf. Im zweiten Spielabschnitt übernimmt neben Hernangomez auch Santi Aldama (Memphis Grizzlies) für "La Roja", die ihren Vorsprung dank energischer und konzentrierter Art auf zehn Punkte ausbauen kann (48:38 zur Pause).
Nach dem Seitenwechsel zeigen die Kanadier zum ersten Mal richtig Biss und Hartnäckigkeit, als sie nach einem 17:4-Lauf plötzlich die Führung übernehmen (55:52). Es geht rasant hin und her, beide Mannschaften sichtlich angestachelt von der sensationellen Stimmung in der ausverkauften Indonesia Arena. Spaniens Trainer Scariolo strahlt da an der Seitenlinie noch die Ruhe selbst aus, findet die richtigen Worte und Personalkombinationen, und plötzlich zündet seine ausgeglichene Truppe den Turbo.
"La Familia" gelingt es, zum Ende des dritten Viertels eine möglicherweise vorentscheidende 12-Punkte-Führung herauszuspielen. Kanada hadert mit den Referees und sich selbst, sichtlich von der Rolle. Wieder ist es Aldama, der mit acht weiteren Zählern die eigenen Anhänger auf den Rängen und die spanischen Journalisten auf der Pressetribüne zum Ausflippen bringt. Ausgiebiger Jubel und die fast schon ikonische Zurschaustellung eigener Spielfreude sollten sich in den verbleibenden zehn Minuten in ein Meer der Tränen umkehren.
Wieder der Einbruch zum Schluss
Einmal mehr verlernt die Nummer eins der Weltrangliste nämlich, wie man Punkte erzielt und eine komfortable Führung über die Zeit bringt. Je länger das plötzlich lodernd heiße Spiel in den späten Sonntagsstunden in Jakarta andauert, desto mehr verschiebt sich das Pendel zugunsten der "Road Warriors". Ein brüllender Dillon Brooks, der kontroverse Verteidigungsspezialist von den Houston Rockets, beflügelt seine Farben dank seines unermüdlichen Einsatzes an beiden Enden. Kanadas Defensive dreht mächtig auf und dreht das Spiel.
"Es wurde immer schwerer im Kopf, wenn ich ehrlich bin", gibt ein konsternierter Abrines in der Mixed Zone zu, während seine Mitspieler gesenkten Blickes in die Kabine schreiten. "Wir haben weiterhin versucht, den Ball von Seite zu Seite zu bewegen, um sie herauszulocken - aber vergeblich. Wir wussten, wie groß und physisch sie in der Verteidigung sein können. Und sie haben uns defensiv zermürbt. Wir konnten einfach nicht mehr punkten."
Spanien bleibt nach Aldamas Korbleger zum 75:69 mehr als fünf Minuten ohne Treffer aus dem Feld. Lediglich Hernangomez netzt ein paar Mal von der Freiwurflinie. Als Juan Nunez von Bundesligist Ratiopharm Ulm sowie Aldama die letzten beiden Feldkorbtreffer erzielen, ist die Partie de facto entschieden - auch weil All-NBA-Guard Gilgeous-Alexander nahezu fehlerfrei von der Linie bleibt (30 Punkte, 14-16 Freiwürfe) und an den letzten 17 Zählern seiner Mannschaft direkt oder indirekt beteiligt ist. Brooks, der das Parkett nicht mehr verlässt, steuert derweil elf seiner 22 Punkte im Schlussviertel bei. Kanada dominiert hier mit 27:12 und qualifiziert sich dank dieses Sieges zum ersten Mal seit 2000 wieder für die Olympischen Spiele.
Generationenwechsel kündigt sich an
Die Spanier hingegen müssen nun nicht nur dieses frühe Aus verdauen, das sie sich nach zwei Implosionen in aufeinanderfolgenden Duellen selbst zuzuschreiben haben. Diese Mannschaft steht vor einem Neuaufbau. Viele Leistungsträger vergangener internationaler Erfolge (Sergio Lull, Rudy Fernandez, Victor Claver) sind Mitte oder Ende 30. Dem Kern fehlt - bis auf Willy Hernangomez - die individuelle Extraklasse, um auf diesem Niveau Partien an sich zu reißen. Die neue Generation um Aldama und Nunez ist noch nicht so weit. Ricky Rubio, Spaniens bester und bekanntester Basketballer, unterbrach vor knapp einem Monat seine Profikarriere, um sich um seine mentale Gesundheit zu kümmern.
Es überrascht also nicht, dass die Protagonisten trotz des enttäuschenden, vorzeitigen K.o.'s Perspektive wahren. "Wir haben aufopferungsvoll gekämpft. Wir haben alles gegeben, was möglich war. Ich bin super stolz auf mein Team", beginnt der amtierende Eurobasket-MVP und Star der Spanier, Willy Hernangomez, die Pressekonferenz. "Dieses Turnier war essenziell für die Zukunft unserer Föderation. Es hat uns so viel beigebracht. Wir müssen aus unseren Fehlern Konsequenzen ziehen, besser werden, lernen, was es zu lernen gibt, und dann guten Mutes in die Zukunft gehen."
Auch Scariolo, dessen Zukunft als Head Coach ungewiss bleibt, gibt sich gefasst. "Ich bin sehr stolz auf meine Mannschaft. Wir waren in so vielen Belangen besser. Wir haben gegen ein erfahrenes, physisches Team, gespickt mit NBA-Stars, nicht nur unsere Art spanischen Basketball gespielt und mitgehalten, sondern gute 35 Minuten sogar dominiert. Wir haben so gut gespielt, wie es mit dieser jungen Truppe möglich war. Wir müssen noch viel lernen. Youngstern wie Santi (Aldama) und Juan (Nunez) gehört die Zukunft. Unsere Zukunft ist vielversprechend. Gemessen an unseren Möglichkeiten war das hier eine der besten Leistungen eines spanischen Teams bei einem internationalen Turnier überhaupt. Wir können also erhobenen Hauptes nach Hause fliegen. Ich bereue nichts."
Quelle: ntv.de