Sport

DHB-Nervenschlacht im Check Beim Tanz am Abgrund rettet Wolff "uns wieder mal den Arsch"

Andreas Wolff rettete seine Mannschaft zum vorzeitigen Gruppensieg.

Andreas Wolff rettete seine Mannschaft zum vorzeitigen Gruppensieg.

(Foto: IMAGO/camera4+)

Die deutsche Handball-Nationalmannschaft schlägt die Schweiz. Das erwartete Ergebnis - nach einem völlig unerwarteten Spielverlauf. Das DHB-Team bringt sich auch im zweiten Auftritt in der WM-Vorrunde wieder in größte Schwierigkeiten.

Was war da los in der Jyske Bank Boxen in Herning?

Tja, es fällt wirklich schwer zu sagen, was da beim 31:28 (15:14)-Sieg der deutschen Handball-Nationalmannschaft los war. Sie alle hatten versichert, dass die Sinne geschärft seien. Dass das DHB-Team die Schweiz nicht auf die leichte Schulter nehmen würde - trotz der aus Schweizer Sicht desaströsen Vorleistungen. Zweimal hatte das DHB-Team die Nachbarn im vergangenen Jahr so vermöbelt, dass deren Trainer Andy Schmid vor dem erneuten Aufeinandertreffen barmte, er habe es "satt, immer gegen Deutschland zu spielen". DHB-Rückraumspieler Marko Grgic verkündete indes: "Wenn wir unser Ding durchziehen, werden wir keine Probleme haben."

Und nun lieferte die deutsche Mannschaft im zweiten Hauptrundenspiel eine erste Halbzeit zum Vergessen ab. "Ab der 20. Minute haben wir ganz anständig gespielt", sagte Timo Kastening auf dem Weg in die Kabine beim ZDF. Eine bemerkenswert ernüchternde Aussage aus einem Team, das um die Medaillen spielen möchte. Dass es da 15:14 stand, war hauptsächlich Torwart Andreas Wolff zu verdanken, der mehr als die Hälfte der Schweizer Würfe hielt.

Der deutsche Angriff war bis zu dieser 20. Minute so vogelwild und frei von jeder Durchschlagskraft, dass Bundestrainer Alfred Gislason schon nach nicht mal zehn Minuten den angeschlagenen Juri Knorr aufs Feld beorderte. "Wir machen zwei Tore in zehn Minuten. Der Angriff macht einen Fehler nach dem anderen. Juri kommt jetzt rein", verkündete Gislason das schnelle Comeback seines Spielmachers, der eigentlich etwas mehr Schonung bekommen sollte. Knorr stand letztlich bis zur Schlusssirene nahezu ununterbrochen auf dem Feld - und das war notwendig.

Wilde Wurfentscheidungen von Renars Uscins machten es dem Außenseiter derweil leicht und Julian Köster rannte gleich mehrfach auf die eidgenössische Abwehrreihe zu, ohne überhaupt eine Wurfentscheidung getroffen zu haben. Alleine Kastening traf zuverlässig, bis dann im letzten Drittel der ersten Hälfte so etwas wie Spielfluss im deutschen Angriff Einzug hielt.

Der aber war mit Wiederbeginn sofort wieder weg, auch die zweite Hälfte geriet zum Krampf. Statt des Silbermedaillengewinners und Mitfavoriten diktierte der Außenseiter das Tempo und zwang die Deutschen in eine wilde Rennerei. Tief in der zweiten Hälfte führte die Schweiz mit zwei Treffern. Doch dann fand die deutsche Mannschaft wieder einmal zu ihrer neuen Qualität: Schlechte Phasen überstehen, um komplizierte Spiele auf der Zielgeraden noch zu gewinnen. Ob das eine gute Nachricht ist, dass sich die ambitionierte deutsche Mannschaft auch im vierten Spiel des Jahres in einen Sumpf wirft, aus dem sie sich dann selbst wieder rauszieht? Im deutschen Lager sind sie davon nicht überzeugt. Lieber würde man schnell dahin zurückfinden, die grundsätzlich ja vorhandene große Qualität wieder länger als 15 entscheidende Minuten lang auf die Platte zu bringen.

Für Entspannung blieb Gislason keine Zeit.

Für Entspannung blieb Gislason keine Zeit.

(Foto: dpa)

Ausgerechnet Uscins und Köster übernahmen zum Schluss Verantwortung, schraubten ihre Quoten in passable Höhen - und erzielten die wichtigen Treffer. Köster war am Ende mit sieben Treffern der beste Schütze des Spiels, Uscins traf sechsmal.

Die deutsche Mannschaft rettete sich also wieder einmal, wie bei den Olympischen Spielen, vom rauschhaften Ritt durchs Turnier ist sie aber auch nach dem zweiten WM-Spiel meilenweit entfernt. Am Sonntag wartet mit den Tschechen, die im Turnier erst jeweils 36 Treffer erzielt, aber auch nur 36 Treffer zugelassen haben, noch eine Chance, sich einzuspielen. Das muss aber im Schnelldurchgang passieren, denn man müsse in den nächsten Spielen "drei, vier Gänge hochschalten", forderte Wolff. Läuft alles nach Plan, trifft das mächtig stotternde DHB-Team schon am Dienstag in Herning auf Serien-Weltmeister Dänemark. Dann wird Alfred Gislasons Jungs die neue Crunchtime-Stärke nichts nutzen. Denn dann fällt die Crunchtime wie schon beim Desaster im Olympiafinale (26:39) im rot-weißen Freudentaumel einfach aus. Ewig wird der Tanz am Abgrund nicht gut ausgehen.

Die Szene des Spiels (I)

Nach sieben Minuten in der zweiten Halbzeit sah sich Alfred Gislason von seiner Mannschaft genötigt, außergewöhnliche Dinge zu probieren: Der Bundestrainer schickte den siebten Feldspieler an den gegnerischen Kreis. Eine Variante, die der Isländer eigentlich gar nicht schätzt. Doch es war eben wieder eine dieser Phasen, in denen im deutschen Angriff kein Rhythmus war, keine Automatismen griffen. Das Experiment wurde nach mäßigem Erfolg schnell wieder eingestellt. Doch wenig illustriert die so lange völlig fehlende Selbstverständlichkeit im Vortrag der Deutschen wie diese kurze Sequenz.

Die Szene des Spiels (II)

Stellen Sie sich vor, Sie sind König von Handball-Deutschland, der Held des Abends. Wie wäre Ihre Reaktion im großen Moment der Krönung? Andreas Wolff machte sich mit 20 Paraden mal wieder zum Retter, der Torwart-Titan rettete die deutschen Träume vom Mehr. Doch auf den Jubel verzichtete Wolff, nach seiner letzten Parade drei Sekunden vor Schluss pustete er durch, schüttelte um Fassung ringend den Kopf und nahm mit skeptischem Blick die Gratulationen und den Dank der Kollegen entgegen. "Worauf wir uns heute verlassen konnten, war Andi Wolff, der endgültig im Turnier angekommen ist, viele Fehler im Angriff wettgemacht und uns im Spiel gehalten hat", sagte Kapitän Johannes Golla im ZDF. Linksaußen Lukas Mertens sagte deutlich: "Er hat uns wieder mal den Arsch gerettet." Wolff hatte das Spiel, so sagte er selbst wenig später, "nicht wirklich gefallen". Wenig illustriert besser, wie groß die Fassungslosigkeit darüber war, wie schwer man es sich selbst gemacht hatte, wie diese kurze Sequenz.

Wie läuft das eigentlich mit Renars Uscins?

Im rechten Rückraum hat Gislason einen Schatz. Und ein Problem. Renars Uscins schoss sich im vergangenen Jahr raketenartig in die internationale Klasse, in Frankreich taucht der Linkshänder seit seinem 14-Tore-Spektakel im olympischen Viertelfinale gegen die Gastgeber in den Albträumen von Generationen auf. Der 23-Jährige kann von seiner Position eine unglaubliche Angriffswucht entwickeln, dazu ist Uscins spielintelligent und ein unermüdliches Kraftwerk. Oder ein Ein-Mann-Abrisskommando. In jedem Falle ist er im deutschen Spiel unersetzlich. Läuft es nicht, so wie zu Beginn des Polen-Spiels, als er drei seiner ersten vier Würfe vergab oder nun über weite Strecken, sieht der Bundestrainer keine Handhabe, seinem gefährlichsten Torschützen eine Pause zu verordnen.

Unermüdlich und unersetzbar: Renars Uscins.

Unermüdlich und unersetzbar: Renars Uscins.

(Foto: dpa)

Backup Franz Semper fehlt zu häufig verletzt, in die Variante mit dem Berliner Nils Lichtlein hat Gislason offenbar kein großes Vertrauen. So muss Uscins selbst entscheiden, wann genug ist. Und der U21-Weltmeister entscheidet sich nahezu immer für: Es reicht noch nicht! "Kannst du noch?", hatte ihn Gislason in der letzten Auszeit des Spiels gefragt - und Uscins bejahte natürlich. Er blieb auf der Platte - und erzielte in der Folge noch drei wichtige Tore. Es ist das Selbstverständnis eines Siegertypen. Ein echter Schatz eben. Und ein Problem, denn es werden noch andere Spiele bei diesem Turnier kommen, in denen sich schwache Phasen nicht mehr reparieren lassen.

Welche guten Nachrichten gibt es sonst noch aus deutscher Sicht?

Mehr zum Thema

Die deutsche Mannschaft steht in der Hauptrunde, doch das ist nicht mal das Minimalziel, sondern eine Selbstverständlichkeit. Durch den hart erkämpften Sieg bleibt die Hoffnung, volle vier Punkte mit in die Hauptrunde zu nehmen. Das wäre die halbe Miete auf dem Weg ins Viertelfinale. Am wichtigsten aber ist die beruhigende Erkenntnis, dass Andreas Wolff voll im Turnier ist. Ohne einen Wolff in Weltklasseform werden die deutschen Medaillenträume spätestens am Fuße des mächtigen Holmenkollens in Oslo zerplatzen. Gegen die Schweiz hielt Wolff 20 Bälle - eine unglaubliche Leistung. Von der er selbst nicht sprechen wollte. "Letztendlich zählen die zwei Punkte", sagte der Torwart im ZDF.

Und noch eine gute Nachricht gibt es: Juri Knorrs "Knie der Nation", im Auftaktspiel gegen die Polen arg überstreckt, tut seinen Dienst offenbar wieder nahezu einwandfrei. Über seinen Zustand werde erst der Ernstfall abschließend Auskunft geben, hatte Gislason vor dem Spiel über seinen Spielmacher gesagt. Und Knorr musste viel zu früh und sicher auch viel zu lange den Beweis antreten: soweit alles gut. Die Nervenschlacht gegen die Schweiz zeigte dann doch recht deutlich: Geht es gegen größte Widerstände, ist ein Juri Knorr unersetzbar.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen