Krise bei New England Patriots Drei-Minuten-Mann Belichick muss sogar Rauswurf fürchten
23.09.2023, 08:07 Uhr
Belichick scheint angefasst.
(Foto: IMAGO/USA TODAY Network)
Kein Trainer der NFL-Geschichte ist so erfolgreich wie Bill Belichick. Unter ihm gewannen die New England Patriots sechs Mal den Super Bowl und wurden zur Dynastie. Derzeit wirkt er jedoch oft hilflos - und steht deshalb in Frage.
Bill Belichick galt noch nie als ein übermäßig redseliger oder warmherzig daher kommender Mensch, selbst in seinen erfolgreichsten Jahren nicht. Wer ihn auf den Pressekonferenzen nach den Trainingseinheiten oder Spielen seiner New England Patriots auf dem Podium vor der versammelten Medien-Menge sieht, merkt schnell, dass er auf die Fragen der Journaille in etwa so viel Lust hat wie auf eine Wurzelbehandlung ohne Betäubung.
Seine Antworten sind kurz ("Der Gegner war besser"), ausweichend ("Wie meinen Sie das?") oder auch so miesepetrig dahin genuschelt, das niemand etwas versteht. Und auf Nachfragen reagiert er gerne mit einem genervten "Darüber habe ich schon gesprochen." So geht das seit Jahren.
Am Freitag jedoch gab es eine neue Seite dieses William Stephen Belichick. Der 71-Jährige kam im blauen Jeanshemd in den Presseraum, um über das Auswärtsspiel am Sonntag bei den New York Jets zu sprechen. Er begann mit einem "Happy Friday. Wie geht's allen?", gab sich dann jedoch gewohnt schmallippig, kurz angebunden und war nach genau 3:04 Minuten - und somit so schnell wie noch nie - wieder verschwunden.
Die Fans buhen ihre New England Patriots aus
Der Auftritt war zwar kurz, sagte aber dennoch viel über die aktuelle Stimmungslage im Verein und beim Trainer. Belichick wirkt angeschlagen. So angeschlagen, wie noch nie. Er ist mit sechs Meistertiteln zwar der erfolgreichste Trainer der NFL-Geschichte. Doch er kommt immer mehr wie ein Zauberer daher, der seinen Zauberstab verloren hat. Die Magie, die Aura und das Charisma des über allen Dingen Erhabenen und in wichtigen Spielen nahezu unbesiegbaren Bill Belichick - alles scheint verflogen zu sein.
Seine Patriots haben die ersten beiden Spiele verloren. Beide daheim. 20:25 gegen die Philadelphia Eagles, 17:24 gegen die Miami Dolphins. Sie haben dabei keine einzige Sekunde geführt. Und sie wurden nach den Niederlagen jeweils mit Buh-Rufen von den Fans verabschiedet.
"In Bill we trust", lautete lange Zeit das Mantra der Patriots-Fans. Er galt als gottgleich. Was immer er auch sagte, was immer er machte, die Fans vertrauen ihm. Viele sogar blind. Doch nun mehren sich die Stimmen der Unzufriedenen, der Enttäuschten, ja sogar der Wütenden.
"Bill Belichick schafft es nicht mehr"
Von "Was macht Belichick?", über "Die Niederlage hat sich Bill zuzuschreiben" bis zu "Es ist Zeit für ihn, in Rente zu gehen", war in den vergangenen Tagen alles an Fan-Reaktionen in Bostons populärstem Sportradio-Sender, "98,5 - The Sports Hub" zu hören. Dort werden die Patriots-Spiele wochentags von 10 Uhr bis 22 Uhr seziert, analysiert und diskutiert.
New England hatte, so die einhellige Meinung, in beiden Spielen im Schlussviertel noch die Chance, zum Sieg. Doch New England gewinnt diese vermeintlich gewinnbaren Spiele eben nicht mehr - und zwar nicht erst seit dieser Saison. Seit dem Weggang von Tom Brady 2020 hätten die Patriots "ungefähr zehn solcher Spiele" gehabt, betonte Moderator Mike Felger, "und sie haben kein einziges gewonnen." Seine Schlussfolgerung: "Bill Belichick schafft es nicht mehr."
Nun ist es bei den New England Patriots so: Wer Bill Belichick sagt, muss im gleichen Atemzug natürlich auch Tom Brady erwähnen. Die Coach-Quarterback-Combo ist einzigartig in der NFL-Geschichte, der Inbegriff für Erfolg, das Fundament der Patriots-Dynastie in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Zusammen haben sie zwischen 2002 und 2019 sechs Super Bowls gewonnen, insgesamt sogar neunmal das Endspiel erreicht.
Ohne Tom Brady ist die Bilanz negativ
Doch seitdem Brady den Verein verließ, sind die Patriots vom alljährlichen Meisteranwärter zu einem Mitläufer geworden. Wer dachte, dass Brady Belichicks geniale Strategien auf dem Spielfeld umsetze und ohne den Coach an der Seitenlinie nicht der außergewöhnliche Quarterback geworden wäre, der er letztlich wurde, dürfte sich inzwischen die Augen reiben.
Denn Brady ist nur ein Jahr nach dem Ende seines Patriots-Kapitels erneut Meister geworden - mit den Tampa Bay Buccaneers. Einem Verein, der bis dahin prozentual gesehen die geringste Siegquote aller Vereine in Nordamerikas vier großen Profiligen hatte. Belichick hingegen hat ohne seinen langjährigen Spielmacher eine Bilanz von 25 Siegen und 28 Niederlagen.
Die Patriots haben in den vergangenen drei Jahren zweimal die Playoffs verpasst - und sich beim einzigen K.-o.-Runden-Spiel gegen die Buffalo Bills (17:47) lächerlich gemacht. Die neue Saison ist gerade mal zwei Spieltage alt, doch für New England ist die Partie am Sonntag gegen die New York Jets (ab 18.55 Uhr live im Free-TV bei RTL und im Stream bei RTL+) zwar noch kein Endspiel, aber zumindest eine Art Wegweiser.
Erster 0:3-Start seit 2000 droht
Die Tageszeitung "Boston Globe" schrieb von "Bill Belichicks einst mächtigen Patriots", die gegen die "verhassten New York Jets" vor einem "must-win game" stünden. Zu Deutsch: Verlieren verboten. Denn bei einer Niederlage hätten die Patriots erstmals seit Belichicks erstem Jahr in New England (2000) die ersten drei Saisonspiele verloren. Und kommende Woche fliegen sie zu den bislang so starken Dallas Cowboys.
Zwar hat der Rekordmeister aus dem Großraum Boston die vergangenen 14 Spiele gegen die Jets gewonnen. Aber selbst das ist derzeit nur eine Statistik - und kein Grund mehr, mit breiter Brust und erhobenen Hauptes nach New York zu reisen. Im Gegenteil. Waren Spiele gegen die Jets in der Vergangenheit stets sichere Siege, wird nun selbst eine Niederlage nicht gänzlich ausgeschlossen. Und das, obwohl die Jets Zach Wilson als Quarterback haben - und nicht Aaron Rodgers, dessen Saison verletzungsbedingt bereits vorbei ist.
"Wie schlimm wird es in Foxborough, wenn die Patriots am Sonntag verlieren?", war eine der Schlagzeilen in "Boston Sports Tonight", einer 30-minütigen TV-Sendung von "NBC Sports Boston". 24 Stunden zuvor war dort Tom E. Curren zu Gast gewesen. Er gilt als einer der am besten vernetzten Journalisten im Patriots-Kosmos, und wird deshalb oft zitiert und gefragt - natürlich auch zur Personalie Belichick.
Dessen Stuhl, sagt Curren, wackele schon seit einigen Jahren, "mal mehr, mal weniger." Er verglich die Situation um den strauchelden Trainer mit "der Totenwache für den Papst." Alles werde "unglaublich intensiv" beobachtet und jede Szene, jedes Ergebnis dahingehend interpretiert, welche Folgen das wohl für Belichick haben könnte. Natürlich weiß auch Curren, wie wichtig das Spiel bei den Jets ist - für Team und Trainer. Und was würde im Falle einer Niederlage passieren? Curren: "Dann haben wir einen Tsunami an Negativität."
Quelle: ntv.de