DHB-Bezwinger im EM-Finale Der Superstar fordert das Kollektiv heraus
26.01.2020, 09:17 Uhr
In der Hauptrunde trafen beide Teams bereits aufeinander - dort gab's beim 22:22 jedoch keinen Sieger.
(Foto: imago images/Eibner Europa)
Bei der Handball-Europameisterschaft spielen heute ausgerechnet jene beiden Mannschaften um den Titel, die der DHB-Auswahl den Weg ins Halbfinale versperrten: Spanien und Kroatien. Spieler, Trainer und Verbandsbosse glauben, dass das den fünften Platz der deutschen Mannschaft aufwertet.
Wenn am späten Sonntagnachmittag das Finale der Handball-Europameisterschaft in Stockholm beginnt (Anwurf 16.30 Uhr), werden die deutschen Ballwerfer um Bundestrainer Christian Prokop schon ein paar Stunden wieder daheim sein und das Endspiel vom heimischen Sofa aus anschauen. Nachdem sie ihr Platzierungsspiel um den fünften Platz gegen Portugal mit 29:27 gewonnen hatten, war ihre lange EM-Reise von Trondheim über Wien bis nach Stockholm einen Tag vor der Zeit zu Ende gegangen. Viel Kritik mussten sie nach der verpassten Halbfinal-Teilnahme einstecken. Das Ziel hatten sie sich selbst gesetzt, waren letztlich aber an Spanien in der Vorrunde deutlich, gegen Kroatien in der Hauptrunde knapp gescheitert. Dabei hatte eine vermeintlich historisch günstige Auslosung den Weg für den Europameister von 2016 schon halb bereitet.
Insofern dürfte die Konstellation im heutigen EM-Finale 2020 so etwas wie eine späte Genugtuung für den Verband im Allgemeinen und für den in der Kritik stehenden Bundestrainer und dessen Mannschaft im Besonderen gewesen sein. Denn dort treffen ausgerechnet jene beiden Teams aufeinander, die den Protagonisten deutscher Ballwerferkunst die einzigen beiden Niederlagen des Turniers beibrachten: nämlich eben Spanien und Kroatien. Damit klingt das EM-Fazit aus deutscher Sicht noch ein wenig positiver, als es die Verbandsoberen jedem Journalisten, der es hören wollte, ohnehin schon in die Blöcke diktiert hatten. Schließlich scheiterte man, wie man nun weiß, gegen den späteren Europameister und den Vize-Europameister. Und das ist ja nun schließlich keine Schande. "Das relativiert unsere Gesamtbilanz bei dieser EM", sagte auch Andreas Michelmann, Präsident des Deutschen Handballbundes, am Samstagabend bei der abschließenden Pressekonferenz: "Das wertet unsere Platzierung deutlich auf."
"Ich habe keine Ahnung, was dieser Junge im Kopf hat"
Ob allerdings mit diesen beiden Finalteilnehmern tatsächlich auch die zwei stärksten Teams dieser EM im Finale stehen, lässt sich indes nur unzulänglich beantworten. Dass sowohl Kroatien als auch Spanien zu Recht im entscheidenden Spiel um den Titel kämpfen, weil sie nun mal ihre Halbfinal-Spiele gewinnen konnten, ist die eine Sichtweise. Dass aber zumindest die Kroaten eine große Portion Glück benötigten, als sie in ihrem Semifinale die favorisierten Norweger nach zweimaliger Verlängerung mit 29:28 (26:26, 23:23, 10:12) bezwingen konnten und dabei auf eine Auswahl trafen, die über das Turnier unendlich viele Körner gelassen hatte und am Ende stehend k. o. war, eine andere Betrachtung der Dinge. Das gab am Ende des Aufeinandertreffens auch Lino Cervar zu. "Am Ende hat heute jene Mannschaft gewonnen, die länger stehen konnte", sagte der Trainer der Kroaten. "Und das waren diesmal eben wir."
Der Mann mit der Woody-Allen-Physiognomie hatte 80 wenig hochklassige, aber extrem intensive Minuten erlebt, in denen sein Team mit viel Herz und Kampfgeist zu Werke ging. Anführer dieser aufopferungsvoll kämpfenden Truppe ist noch immer Domagoj Duvnjak. Der Mann, der sein Geld in der Bundesliga verdient, ist zwar nicht mehr unumstritten auf der Spielmacherposition, weil ihm in Luka Cindric ein ebenbürtiger Konkurrent erwachsen ist - ein Luxus, von dem Bundestrainer Christian Prokop nur träumen kann - aber der 31-Jährige ist noch immer Herz und Kopf der Mannschaft. Als vorgezogene Spitze in der 5:1-Abwehr machte er schon den deutschen Handballern das Leben schwer. Und auch gegen Norwegen gelang es ihm, das ansonsten hochflexible Angriffsspiel der Skandinavier ins Stottern zu bringen. "Ich habe keine Ahnung, was dieser Junge im Kopf hat, solch ein Spiel abzuliefern", sagte Cervar. "Er ist unser Animal."
Wer hat nach acht Spielen die meisten Reserven?
Auch im Finale wird Duvnjak, dem schon jetzt sein Heimatland zu Füßen liegt, einer der Schlüsselspieler sein. Darüber hinaus werden auch das Positionsspiel mit den stark besetzten Halbpositionen, wo Luka Stepancic und Igor Karacic enorme Torgefahr ausstrahlen, und das Kreisspiel von zentraler Bedeutung sein. Stellt sich die Frage, wie er und seine Teamkollegen die 20-minütige Zusatzschicht vom Halbfinal-Freitag wegstecken können. Denn im Vergleich hatten es die Spanier schon ein wenig leichter in ihrem Halbfinale gegen die von dem in der Bundesliga bestens bekannten Schweden Ljubomir Vranjes gecoachten Slowenen. Doch Duvnjak bleibt zuversichtlich: "Ich habe noch nie in meinem Leben solch ein Match gespielt", sagte der Mann vom THW Kiel rückblickend. "Und wenn wir im Finale wieder unseren kroatischen Charakter zeigen, nicht aufgeben und auch nicht fallen, wenn wir müde sind, werden wir Europameister werden."
Das wollen die Gegner um jeden Preis verhindern. Die Spanier sind der Titelverteidiger, spielten bislang ein starkes Turnier und strahlen eine große Souveränität aus. Daraus ließe sich trefflich eine Favoritenrolle ableiten, hätten sich die Iberer nicht im abschließenden Hauptrundenspiel vor vier Tagen mit 22:22-Unentschieden von eben jenen Kroaten getrennt. Deshalb übt sich Jordi Ribera, der 56-jährige Coach der Spanier, in Zurückhaltung. Der Mann, der schon beim EM-Gewinn 2018 in Kroatien auf der Bank saß, sieht die Chancen eher gleichmäßig verteilt. "Wir haben eine 50-prozentige Gewinnchance und vieles wird davon abhängen, wer nach acht Turnierspielen die besseren Reserven hat."
Anders als die Kroaten haben die Spanier nicht den einen alles überragenden Individualisten. Riberas Team kommt über die mannschaftliche Geschlossenheit und spielt deshalb im Angriff äußerst variabel. Vor allem das Zusammenspiel mit Kreisläufer Julen Aguinagalde, einer Legende im Welthandball, ist eine gefürchtete Waffe. Dennoch, das weiß auch Ribera, gilt es, "unnötige Ballverluste zu vermeiden, weil die Kroaten dann blitzschnell zu einfachen Toren kommen". Aguinagaldes Teamkollege Gonzalo Perez de Vargas, einer von zwei Weltklassetorhütern, weiß zwar um die Stärke des eigenen Angriffs, wo "viele Spieler in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, weshalb wir für jeden Gegner schwer auszurechnen sind". Letztlich aber hält er es mit einfachen Wahrheiten, wenn er sagt: "Im Angriff gewinnt man Spiele, in der Abwehr Turniere." Am späten Sonntagnachmittag kann er seinen Teil dazu beitragen.
Quelle: ntv.de