K.-o.-Fight gegen Super-Schweiz Der unbequeme Knochenarbeiter Nico Sturm
22.05.2023, 21:41 Uhr
Nico Sturm ist aus der Nationalmannschaft nicht mehr wegzudenken.
(Foto: dpa)
Sollte die deutsche Eishockey-Nationalmannschaft ihr abschließendes Gruppenspiel gegen Frankreich gewinnen, kommt es im Viertelfinale zum Duell mit der grandios aufspielenden Schweiz. Beim DEB-Team wird Spätstarter Nico Sturm immer mehr zum Schlüsselspieler.
Würde es einen Titel für die beste Mannschaft der WM-Vorrunde geben, die Schweizer Eishockeyspieler wären vermutlich Rekord-Champion. 16 Gruppenspiele haben die "Eidgenossen" in Folge gewonnen (!), dabei zuletzt gegen Kanada und vor allem gegen Tschechien fantastisches Eishockey gespielt. Schon vor dem letzten Spieltag ist die Mannschaft nicht mehr von Platz eins zu verdrängen - und damit potenzieller Gegner von Deutschland. Gewinnt die Mannschaft von Bundestrainer Harold Kreis am Dienstagmittag das Spiel gegen Frankreich (11.20 Uhr im Liveticker bei ntv.de), die bislang erst ein Spiel (gegen Österreich, 2:1 n. V.) gewonnen haben, aber auch nicht mehr absteigen können, dann steht dem Duell der Erzrivalen nichts mehr im Wege.
26 Tore hat die Schweiz bisher geschossen, nur die jungen US-Boys sind noch gieriger vor des Gegners Tor. Und auch die Verteidigung macht bisher einen grandiosen Job, sechs Gegentreffer sind die drittwenigsten im Turnier. Diese beeindruckenden Zahlen und noch mehr die Art und Weise wie das Team über das Eis schwebt, schüren in der Heimat die größten Erwartungen. Der WM-Titel soll her. Das Nachrichtenportal watson.ch ernannte die Nati bereits zum "weißen Ballett", weil es "elegant, schnell, leichtfüßig und präzis" sei. Mehr Schwärmerei geht kaum.
"Kultur der entscheidenden Spiele"
Aber es gibt ein Problem. So gut die Eidgenossen in der Vorrunde über die glatte Fläche flitzen, so schnell fliegen sie in der K.-o.-Runde aus dem Turnier. Bei den letzten vier Weltmeisterschaften war das Viertelfinale jeweils die Endstation. Einmal war Deutschland dabei der Stolperstein, 2021. Eine von mehreren offenen Rechnungen der Schweizer mit dem DEB-Team. Immer, wenn es in den vergangenen Jahren darauf ankam, verloren sie: in den WM-Viertelfinals 2010 und eben 2021 sowie im Play-off zum Viertelfinale bei Olympia 2018.
Um die nächste gigantische Enttäuschung zu verhindern, arbeitet Coach Patrick Fischer mit allen Tricks. Er setzt auf eine "Kultur der entscheidenden Spiele". Gegen Tschechien stellte er alle Reihen um, um die Sinne für die nächsten Aufgaben zu schärfen: "Umstellungen führen dazu, dass alle miteinander reden." Nicht mit, sondern über die Eidgenossen sprachen auch die Deutschen. Weil sie mussten, weil sie gefragt wurden. Coach Kreis wurde dabei von den Journalisten gewissermaßen auf den Tanzboden gezerrt. Wenn die Schweizer das "weiße Ballett seien, was wäre Deutschland denn da, wurde er gefragt. "In der Oper und im Ballett kenne ich mich nicht so gut aus", antwortete der Bundestrainer schlagfertig, "aber mit Sicherheit nicht der sterbende Schwan."
"Einfaches Eishockey, Nord-Süd"
Auch bei den Deutschen ist das Selbstvertrauen sehr groß. Nach drei Niederlagen trotz Topleistungen gegen die großen Nationen Schweden (0:1), Finnland (3:4) und USA (2:3) stimmen seither auch die Ergebnisse. Dänemark (6.4), Österreich (4:2) und Ungarn (7:2) wurden souverän besiegt. Zum Anführer auf und neben dem Eis schwang sich dabei immer mehr NHL-Profi Nico Sturm auf. "Einfaches Eishockey, Nord-Süd", sagte der 28-Jährige immer wieder. Als harter Arbeiter geht der Mittelstürmer der San Jose Sharks auf dem Eis voran, außerhalb der Bande redet er Klartext. "Keine Faxen mit der Scheibe an der blauen Linie", forderte er von der ersten Sturmreihe um NHL-Rookie John-Jason Peterka, die sich zwischenzeitlich in Einzelaktionen verzettelte. Seiner Rolle innerhalb des Teams schadet diese Klartext-Mentalität auch bei unangenehmen Themen nicht. "Er ist als Typ und die Art und Weise, wie er zum Spiel beiträgt, eine große Bereicherung für unser Team", lobt Kapitän Moritz Müller.
Defensiv, so findet MagentaSport-Experte und Ex-Nationalspieler Kai Hospelt im Gespräch mit ntv.de, gebe er der Mannschaft, das, was man sich von ihm versprochen habe. "Unglaublich gut am Bully, extrem zweikampfstark im Forecheck und in allen wichtigen Situationen auf dem Eis", lobt Hospelt den WM-Debütanten. Doch anders als in der NHL kommt Sturm für Deutschland auch in der Offensive eine viel wichtigere Rolle zu. "Er steht im Powerplay auf dem Eis und was bemerkenswert ist, wie viel Geschwindigkeit er mitbringt. Hinten ist er so stark wie erhofft und vorne noch viel stärker als erwartet. Er spielt echt ein super Turnier bis jetzt."
"Die Tore waren jetzt nicht irgendwelche Zauberdinger"
Als es für Deutschland nach dem Niederlagen-Dreierpack darauf ankam, die Chancen im Kampf ums Viertelfinale zu erhalten, glänzte Sturm als Torjäger - obwohl er sich über Scorerpunkte gar nicht definiert. Es klang fast ein wenig entschuldigend, als er nach dem 7:2 gegen Ungarn zu seinem zweiten Doppelpack in Folge und insgesamt fünf Turniertreffern meinte: "Die Tore waren jetzt nicht irgendwelche Zauberdinger, alles im Radius von ein, zwei Metern vom Tor. So verdiene ich mein Geld und nicht, weil ich anfange, irgendwelche Leute auszutanzen." Sein uneitles Spiel kommt an im Team. "Ich muss nicht jedes Spiel einen Scorerpunkt machen und es war auch kein schlechtes Spiel, wenn ich mal nicht auf dem Spielberichtsbogen stehe."
Dass diese Art Eishockey im DEB-Team noch nicht jeder aufs Eis bringt, hat Sturm immer wieder angesprochen. Nach dem dritten Sieg in Folge mit dem Viertelfinale vor Augen wollte er sich aber nicht wieder "hier hinstellen und alles kritisieren". So fand er auch für den 21-jährigen Peterka nur lobende Worte, der auf den Denkzettel von Kreis und seine Zwangspause auf der Bank prompt mit einem Tor und drei Vorlagen geantwortet hatte. "Wenn er die richtigen Entscheidungen mit der Scheibe trifft, ist er unser bester Stürmer", sagte Sturm, "ich freue mich für ihn, wenn er jetzt hoffentlich zum richtigen Zeitpunkt seine beste Form findet."
Ganz besondere Fähigkeiten
Harte Arbeit auf dem Eis und schnörkelloses Spiel lernte Sturm in Nordamerika. In Deutschland spielte er nie, da er sich nie so recht zugetraut hat, Profi zu werden - was ihm tatsächlich auch erst mit 24 gelang. Am US-College spielte er eigentlich auch nur, um sich damit das Studium zu finanzieren. Er erkannte aber schnell, dass er es mit bestimmten Fähigkeiten - etwa am Bully-Punkt oder mit konsequenter Defensivarbeit - bis in die NHL schaffen würde. Dies gelang - und wie. 2022 gewann er mit Colorado den Stanley Cup und unterschrieb anschließend einen Sechs-Millionen-Dollar-Vertrag in San Jose. Voller Ehrfurcht spricht auch NHL-Weltklassestürmer Leon Draisail nun über seinen Landsmann: "Er hat Knochenarbeit geleistet, um eine feste NHL-Größe zu werden."
Nach nur zehn Länderspielen des bereits 28 Jahre alten NHL-Stürmers der San Jose Sharks lässt sich sagen: Ohne den Stanley-Cup-Sieger von 2022 wäre die Auswahl des Deutschen Eishockey-Bundes bei der Weltmeisterschaft in Finnland und Lettland wohl nur halb so gut - und gegen die grandiosen Schweizer womöglich chancenlos.
Quelle: ntv.de, mit dpa/sid