
Jim Gottfridsson erlebte die totale Enttäuschung.
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Die deutsche Handball-Nationalmannschaft spielt am Nachmittag um EM-Bronze - und trifft dort auf ein Team, das emotional schwer gebeutelt antritt. Schweden fühlt sich im Halbfinale betrogen, Experten sprechen von einem "gigantischen Skandal".
Dieser letzte Wurf. Dieser verdammte letzte Wurf. Dieser Wunderwurf, der die einen in den Himmel schickte und die anderen in die Hölle. 27:26 hatten die Schweden im ersten Halbfinale der Handball-EM vorne gelegen, die favorisierten Franzosen standen vor dem Aus. Ein letzter Freiwurf noch, die reguläre Spielzeit war längst abgelaufen, der Freiwurf musste direkt ausgeführt werden. Kein Pass, kein Spielzug, einfach nur ein Wurf aufs Tor aus neun Metern. Und dann trat Elohim Prandi an, ließ sich an der hünenhaften Mauer der Schweden vorbeifallen und nagelte den Ball in den Winkel des schwedischen Tores.
Manche nannten den Treffer ein "Wundertor", andere "Jahrhunderttor". Es ist eine Situation, die vielleicht in jedem 100. Versuch mit einem Tor endet. Für die Schweden bedeutete er das Ende der Titelträume. In der Verlängerung fielen sie unter dem Schock des Ausgleichs in sich zusammen, Frankreich spielt nach dem 34:30 um den Titel.
Schwedens Nationaltrainer Glenn Solberg hatte Tränen in den Augen, als er nach dem Spiel über das sportliche Drama sprechen sollte, das er zuvor über 70 Minuten erlebt hatte. "Ich bin sehr enttäuscht, dass wir es nicht geschafft haben, dieses Spiel zu gewinnen. Wir spielen einen fantastischen Handball und kommen in der zweiten Halbzeit ins Spiel, und dann passiert, was passieren muss", sagte der ehemalige Bundesligaprofi. In den ersten 30 Minuten überrollten die Franzosen seine Mannschaft förmlich. Zeitweise wirkte das EM-Halbfinale wie eines dieser bedeutungslosen Gruppenspiele, in denen die einen noch wollen und die anderen nicht mehr können.
"Klarer Fehler"
Mit sechs Toren führte Frankreich zur Halbzeit, dann drehte Schweden auf. "Wir müssen unsere beste Halbzeit spielen, die wir je in der Nationalmannschaft gespielt haben, um zu gewinnen", sagte der Magdeburger Felix Claar in der Pause. Und sie lieferten. Der überragende Torwart Andreas Palicka vernagelte sein Tor, vorne führte Regisseur Jim Gottfridsson sein Team Treffer um Treffer heran. Wenige Minuten vor Schluss führten sie. Und hatten damit die Fallhöhe für den Absturz bis in die emotionale Hölle geschaffen.
"Es ist im Moment eine riesige Enttäuschung", sagte Torhüter Andreas Palicka. "Es ist ein unglaubliches Comeback in der zweiten Halbzeit, wo wir zeigen, was für tolle Charaktere wir in dieser Mannschaft haben. Wir führen mit zwei Toren, dann liegen wir mit einem Tor vorne und sie bekommen einen stehenden Freiwurf. Prandi schießt ein fantastisches Tor. Und in der Verlängerung hat man das Gefühl, dass etwas fehlt."
Die nordmazedonischen Schiedsrichter Slave Nikolov und Gjorgji Nachevski hatten darauf verzichtet, die Ausführung des Freiwurfs von Elohim Prandi noch einmal per Video zu checken. Damit zogen sie sich nicht nur den Unmut der Schweden zu, die auf dem Feld noch wie unter Schock auf wilden Widerstand verzichtet hatten - dann aber doch später noch Protest gegen die Spielwertung eingelegt hatten. EHF-Präsident Michael Wiederer persönlich bezeichnete die Entscheidung der Schiedsrichter, nicht auf den Videobeweis zurückzugreifen, als "klaren Fehler. Die Schiedsrichter hätten sich das Video ansehen sollen."
Hätten sie das getan, wären sie möglicherweise zu dem Schluss gekommen, dass Prandis Fuß sich bei dem direkt verwandelten Freiwurf zu früh vom Boden löste und der Treffer somit irregulär war. Dann wären die Schweden für ihre große Moral belohnt worden und die enttäuschten Franzosen hätten am Nachmittag (15 Uhr/ZDF und im Liveticker auf ntv.de) gegen die deutsche Mannschaft um Bronze gespielt. Es kam anders, der schwedische Protest wurde nach "einer sorgfältigen Bewertung" der Situation abgelehnt, der Einsatz des VAR habe im Ermessen der Schiedsrichter gelegen.
"Finde, wir machen alles richtig"
Schon die Sekunden vor dem Treffer, der ihnen das Genick brach, waren unglücklich für die Schweden gelaufen. Den vermeintlichen Treffer von Gottfridsson zum 28:26, der die Entscheidung bedeutet hätte, pfiffen die Schiedsrichter wegen eines Schrittfehlers ab. "Auch wenn ich mir die Situation 1000-mal anschaue, das ist kein Schrittfehler. Und wenn das Schrittfehler ist, dann glaube ich, kannst du jeden Angriff abpfeifen", schimpfte der Spielmacher der SG Flensburg-Handewitt beim "Kicker". "Ich finde, wir machen alles richtig, um dieses Finale zu erreichen."
Eine kuriose Situation hatte es schon vor den dramatischen Schlusssekunden gegeben, die ebenfalls bitter endete für die Schweden: Einen grenzwertigen Angriff des französischen Rechtsaußen Yanis Lenne wollten sie als Stürmerfoul gewertet wissen, es ertönte auch ein deutlich hörbarer Pfiff. Der Torschiedsrichter habe ihm dann gesagt, "dass er nur in die Pfeife geatmet hat" sagte Gottfridsson, der Prandi zuvor vor Beginn der Verlängerung lachend zu dessen Wundertor gratuliert hatte, kopfschüttelnd.
"Ich bin wütend im Namen Schwedens"
Der niedergeschlagene Jonathan Carlsbogård schimpfte: "Ich weiß nicht, warum sie diesen VAR-Bildschirm haben, wenn sie ihn nicht einmal benutzen. Am Ende gibt es drei Situationen und sie schauen sich keine einzige an. Ich denke, das ist ein Skandal", sagt er niedergeschlagen. Auch im Nachbarland war man sauer über das Finale dieses großen Spiels: "Meiner Meinung nach ist dies ein gigantischer Skandal. Ich bin wütend im Namen Schwedens", sagte der ehemalige dänische Profi Claus Møller Jakobsen bei TV2.
Schon im Hauptrundenspiel gegen die übermächtigen Dänen hatten sie großes Pech mit einer umstrittenen, dann aber spielentscheidenden Szene in der letzten Sekunde: Als sie schon Oscar Bergendahls Ausgleichstreffer zum 28:28 feierten, machten die beiden tschechischen Unparteiischen klar: Das Tor zählt nicht, weil Schwedens Hampus Wanne im Kreis gestanden habe. Der Außen war allerdings deutlich sichtbar in den verbotenen Raum geschubst worden. "Es fühlt sich an, als ob wir bestohlen worden sind", schimpfte Gottfridsson bei TV6. Nun also gab es den nächsten emotionalen Nackenschlag. Und der war deutlich schmerzhafter.
Jetzt müssen sich die Schweden vor dem Spiel um Bronze wieder straffen. Es geht nicht nur um ein glänzendes Ende der Europameisterschaft, sondern auch um die direkte Qualifikation für die Olympischen Spiele in Paris im Sommer. Nicht wenige glauben, dass Schweden die Enttäuschung nicht bis zum Anwurf aus den Knochen geschüttelt haben wird.
Quelle: ntv.de