Der beste Schütze sitzt zu Hause Diese eklatante Schwäche ist fatal fürs WM-Team
20.01.2025, 20:51 Uhr
Spoiler: Der Ball geht nicht ins Tor.
(Foto: IMAGO/Eibner)
Jeder Wurf ein Treffer? Für die deutschen Handballer gilt dies bei der Weltmeisterschaft absolut nicht. Vor allem vom Siebenmeterstrich ist die Ausbeute schlecht. Bundestrainer Alfred Gislason beweist Galgenhumor - hat den besten Schützen der Bundesliga aber erst gar nicht für die WM nominiert.
Es gibt ein ganz einfaches Rezept für die kommenden Gegner der deutschen Handball-Nationalmannschaft: Nicht werfen lassen, sondern foulen, Siebenmeter verursachen und dann entspannt zuschauen, wie die Deutschen verwerfen. Nun gut, dies ist natürlich nicht ganz ernst gemeint, doch wer es böse mit dem DHB-Team meint, könnte auf diesen Gedanken kommen.
134 Minuten dauerte es bei der Weltmeisterschaft, ehe der erste verwandelte Siebenmeter für das DHB-Team in die Statistik einging. Viermal hatten die Deutschen zuvor vom Siebenmeterpunkt die Chance, viermal vergaben sie. Lukas Zerbe traf zweimal nicht, auch Timo Kastening und Marko Grgic brachten nichts auf den Spielbogen. Erst Juri Knorr war dann im dritten Vorrundenspiel gegen Tschechien erfolgreich, es war bereits der dritte Siebenmeter im Spiel.
Zugegeben, im Auftaktspiel gegen Polen hatte es keinen Strafwurf gegeben, gegen die Schweiz wurden dann aber beide versemmelt. Was Bundestrainer Alfred Gislason zu Galgenhumor veranlasste: "Wir hätten deutlich mehr Siebenmeter bekommen müssen, Gott sei Dank haben wir sie nicht bekommen."
Viele Schützen, wenig Treffer
Wenn erst der vierte Schütze trifft - und im zweiten Versuch dann auch schon wieder nicht mehr, wie Knorr gegen Tschechien -, dann läuft etwas schief. Eigentlich sind Siebenmeter - analog zu den Elfmetern im Fußball - sichere Tore. Das zeigt die Statistik. Der Däne Emil Jakobsen, der in der Bundesliga bei der SG Flensburg-Handewitt spielt, hat bei seiner Heim-WM bislang eine Quote von 100 Prozent - fünf Chancen, fünf Treffer. Rutger Ten Velde hat für die Niederlande 12 von 13 Versuchen eingenetzt und viele weitere treffen für ihre Teams beständig. Nicht so die Deutschen, bei denen die Chancenverwertung generell ein großes Problem ist.
"Eigentlich müssen nicht fünf Leute ran", sagte Renars Uscins, der als fünfter Schütze seines Teams dann in der 46. Minute mit 91 Kilometern pro Stunde schnörkellos ins linke obere Eck zielte. Der 22-jährige Shootingstar war es schon bei den Olympischen Spielen gewesen, der sich ein Herz genommen hatte, als die deutsche Siebenmeter-Ausbeute zur Katastrophe zu werden drohte. Im Herzinfarkt-Viertelfinale gegen Frankreich, das die DHB-Auswahl nach Sechs-Sekunden-Wunder und Verlängerung mit 35:34 gewann, hatte Uscins alle drei seiner Siebenmeter-Würfe verwandelt. Dabei hatte er im Profi-Bereich zuvor lediglich einen Siebenmeter geworfen - im DHB-Pokal seiner TSV Hannover-Burgdorf gegen den SC Magdeburg - und trainiert sie eigener Aussage zufolge auch nicht.
Aufgrund dessen ist Uscins auch bei dieser WM nicht erste Wahl. Das Problem ist beim DHB-Team übrigens nicht neu: Bei der Heim-EM im Vorjahr verwandelte Knorr 14 von 19 Strafwürfen, Kastening fünf von acht. Bei der WM 2023 war es noch Knorrs alleinige Aufgabe, damals verwandelte er 23 von 25 Würfen. Und daran erinnerte er nun auch nach seinem Treffer: "Ich konnte das ja mal ganz gut. Es gab mal Turniere, da habe ich das ganz gut gemacht." Weil aber zu viel Last auf dem Spielmacher lag, sollte er eigentlich nicht mehr werfen. Dass er es gegen Tschechien doch tat, war eine spontane Entscheidung und Untermalung seines Selbstbewusstseins. Eigentlich hatte Gislason erneut Kastening beordern wollen, der hatte auf der Bank bereits die Jacke ausgezogen - dann aber schnappte sich Knorr den Ball. Und traf, ehe er danach verwarf.
"Die Quote ist ein bisschen ausbaufähig bei allen", so Gislason zu den Problemen bei dieser WM. Extratraining also in Dänemark? Ist nicht geplant, so Co-Trainer Erik Wudtke. Manchmal hätten die deutschen Spieler auch "ein bisschen Pech" gehabt. "Ich glaube, dass die Wurftechnik und Wurfentscheidung oft die richtigen gewesen sind. Wir werden da keine Panik schieben." Auf die Frage, wer das Problem lösen kann, war sein Chef dennoch skeptisch: "Keiner, denn die Torhüter kommen ja nicht infrage."
Bester Siebenmeter-Schütze der Bundesliga nicht bei WM
Dabei gäbe es da einen Deutschen, der in der Bundesliga derzeit unnachahmlich wirft - und trifft: Tim Freihöfer. Der Linksaußen von den Füchsen Berlin ist der Shootingstar dieser Saison, in 16 Spielen hat er 52 Siebenmeter verwandelt, weist eine Wurfquote von 82,5 Prozent auf. Insgesamt steht der 22-Jährige bei 108 Toren - und führt in diesen Statistiken jeweils die Liga an. Der U21-Weltmeister von 2023 hat in dieser Saison einen echten Entwicklungsschub gemacht und überlistet die Torhüter teilweise frech mit Lupfern, teilweise eiskalt mit knallharten Würfen.
Doch Freihöfer hat es nicht in das WM-Team von Gislason geschafft. Noch nie war er so nah dran am Nationalteam wie aktuell, er hat noch kein Länderspiel bestritten. Als Teil des 35er-Kaders hatten ihm viele WM-Chancen attestiert, schließlich weist ihn der Handball Performance Index, die Bundesliga-Statistik, die verschiedene Leistungsparameter zu einer Gesamtbewertung zusammenfasst, als besten Linksaußen der Liga aus. Doch dann kam er auf seiner Position nicht an den erfahrenen Rune Dahmke und Lukas Mertens vorbei, die jeweils seit Jahren feste Größen sind. Und einen reinen Siebenmeter-Spezialisten mitzunehmen, ist unüblich.
Der 31-jährige Dahmke ist von unschätzbarem Wert für das Teamgefüge, betonen viele Experten. Er haut sich immer rein, wenn er gefordert ist, blaue Rippen wie nach einer spektakulären Flugabwehr bei der EM 2018 nur als Beispiel. Dass er mit der norwegischen Ex-Welthandballerin Stine Oftedal Dahmke verheiratet ist und damit bei der Finalrunde in Oslo dem DHB-Team einen kleinen Publikumsvorteil einheimsen könnte, ist nur ein netter Randaspekt. Der drei Jahre jüngere Mertens spielt beim Deutschen Meister SC Magdeburg ebenfalls eine tragende Rolle und auch schon seit 2021 beim DHB.
"Ich wäre kein Leistungssportler, wenn ich darüber nicht enttäuscht gewesen wäre", hatte Freihöfer bei Dyn gesagt: "Ich kann die Entscheidung verstehen. Es sind zwei routinierte Spieler mit dabei, die seit Jahren gute Leistungen bringen, in der Bundesliga und in der Nationalmannschaft." Es sei "jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, etwas Neues auszuprobieren", erklärte er selbst.
Weil nun aber die Siebenmeter Anlass zur Diskussion bieten, fällt in den TV-Übertragungen immer mal wieder der Name Tim Freihöfer. Für den Berliner nicht die schlechteste Wertschätzung. Ganz sicher wäre ihm als Fan aber auch lieber, wenn das DHB-Team bei der WM an der Siebenmeterlinie die Kurve kriegt. Vor allem im Spiel gegen den Gastgeber, Topfavorit, Olympiasieger und Serien-Weltmeister Dänemark (Dienstag, 20.30 Uhr/ARD und im ntv.de-Liveticker) mit seinen Füchse-Kollegen Mathias Gidsel und Lasse Andersson wäre eine bessere Chancenverwertung der vielleicht einzige Hoffnungsschimmer auf eine Überraschung.
Quelle: ntv.de, ara/sid/dpa