Kriegsvergleich im "Ally Pally" England "zerschlägt" deutsche Träume bei der Darts-WM
27.12.2023, 20:31 Uhr
Da waren es nur noch zwei Deutsche bei der Darts-WM: Gabriel Clemens (rechts) unterliegt Dave Chisnall mit 1:4.
(Foto: picture alliance / Action Plus)
Fast zwei Wochen lang ist die Darts-WM in London eine deutsche Dauer-Party, doch nach Weihnachten ist die Euphorie vorerst verflogen. Martin Schindler schenkt eine 2:0-Führung her und scheidet genauso aus wie Gabriel Clemens. Zwei deutsche Hoffnungen gibt es noch.
Es sollte der nächste deutsche Darts-Feiertag werden bei der Weltmeisterschaft im Londoner Alexandra Palace, wurde aber ein Nachmittag zum Vergessen für die beiden besten deutschen Dartspieler. Gabriel Clemens, bei der vergangenen WM noch sensationell bis ins Halbfinale gestürmt, fand im Spiel gegen Dave Chisnall die Doppelfelder so gut wie nie und schied deutlich mit 1:4-Sätzen aus. "Germany get battered, everywhere they go", riefen die Zuschauer, angelehnt an den üblichen "Zerschlagungs"-Schlachtruf englischer Fans in Richtung Schottland. "Deutschland wird zerschlagen, überall, wo es hingeht."
Zu diesem Zeitpunkt war die Partie zwischen Dave Chisnall und Gabriel Clemens bereits so gut wie entschieden. Weil Clemens zwar im Scoring mithalten konnte, die Doppelfelder aber reihenweise nicht traf, lag "Chizzy" schnell mit 3:0 vorne. Clemens rettete sich immerhin zu einem Satzgewinn, mehr war aber nicht mehr drin. Entsprechend enttäuscht sagte der "German Giant" bei Sport1, dass er Zeit zur Verarbeitung brauche. "Das dauert ein bisschen. Es bringt jetzt aber auch nichts, wenn ich hier rumheule oder rumschreie. Ich werde es sacken lassen und nächstes Jahr wieder Darts in die Hand nehmen." Weitere Interviews wollte Clemens nach der deutlichen Niederlage nicht geben.
Für den 40-jährigen Saarländer ist das Aus in der Runde der letzten 32 das bittere Ende eines Jahres mit Höhen und Tiefen. Am Neujahrstag hatte alles mit dem heroischen Sieg über Gerwyn Price bei der vergangenen WM angefangen, einen Tag später endete das WM-Märchen erst im Halbfinale. Danach folgten im Jahresverlauf viele Enttäuschungen, aber auch Highlights wie der Halbfinal-Einzug bei den Players Championship Finals im November oder die Halbfinal-Teilnahme bei der Team-WM im Juni zusammen mit Martin Schindler.
Schindler verschenkt 2:0-Führung
Jener Martin Schindler hatte sich an diesem ersten WM-Tag nach Weihnachten ebenso viel vorgenommen. Gegen den Engländer Scott Williams war Schindler sogar als Favorit ins Spiel gegangen und darüber hinaus auch perfekt gestartet. "The Wall", so der Spitzname des gebürtigen Brandenburgers, ging schnell mit 2:0-Sätzen in Führung. Schindler wirkte entschlossen, sein Gegner stapfte unzufrieden von der Bühne nach seinem Horror-Start mit kaum Chancen auf die Doppelfelder. Ein Start nach Maß war es dagegen für die deutsche Nummer zwei.

Scott Williams ist die Freude über den Achtelfinal-Einzug anzumerken.
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Nach der Pause entwickelte sich plötzlich ein ganz anderes Spiel. Williams bestimmte das Geschehen, traf die Triple deutlich häufiger und die entscheidenden Doppel waren zumeist auch kein größeres Problem. Spätestens beim Stand von 2:2 in den Sätzen hatte Williams Lunte gerochen. Der Engländer warf alles Mögliche an Emotion in das Spiel, das Publikum tat sein Übriges. Hatten zu Spielbeginn noch die Gesänge für Martin Schindler vom deutschen Teil der Zuschauer dominiert, setzte sich spätestens nach dem Williams-Ausgleich ein englischer Akustikteppich in der West Hall des Alexandra Palace durch.
"Bisschen überstürzt angegangen"
Die 3000 Darts-Fans sahen nach der letzten Pause dann, wie die Partie erneut kippte. Plötzlich war es wieder Williams, der kaum noch einen Pfeil ins gewünschte Feld warf. Schindler dagegen spielte wieder groß auf, wie zu Beginn der Partie. Der fünfte Satz ging folgerichtig glatt mit 3:0 an den Deutschen.
Doch Williams gab sich nicht auf, überstand ein paar kritische Momente von Schindler und traf seinerseits in wichtigen Momenten die Doppel. Der 33-Jährige mit dem Spitznamen "Shaggy" holte sich den sechsten Durchgang, nachdem Schindler trotz drei Chancen die Doppel 18 verfehlt hatte. "Ich glaube, ich bin diese 36 Punkte ein bisschen zu überstürzt angegangen. Die waren allesamt ziemlich knapp. Aber knapp vorbei ist halt auch daneben", sagte Schindler auf ntv.de-Nachfrage nach seinem bitteren WM-Aus.
Die Niederlage besiegelte Williams im entscheidenden siebten Satz. Beim Stand von 3:3 in den Sätzen und 2:2 in den Legs griff die sogenannte "Two-Clear-Leg-Regel", wonach ein Spieler im entscheidenden Durchgang zwei Legs Vorsprung zum Satz- und damit Matchgewinn braucht. Williams war in dieser absoluten Schlussphase der konstantere Spieler, auch die Zuschauer waren längst mehrheitlich auf der Seite des Engländers.
"Zwei Weltkriege und eine WM gewonnen"
Als der letzte Dart in der Doppel 18 landete, war es endgültig um den emotional aufbrausenden Williams geschehen. Die Darts pfefferte er auf den Boden, die Feier mit den Fans und seinem Anhang im VIP-Bereich des Alexandra Palace (ein Dutzend Gäste hatte Williams beim bisher größten Spiel seiner Laufbahn im Schlepptau) konnte beginnen.
Wäre da nicht das obligatorische Sieger-Interview mit dem übertragenden Sender Sky Sports gewesen. Williams - stand jetzt die neue Nummer 37 in der Weltrangliste - wählte einen ziemlich unangebrachten Weltkriegsvergleich: "Das Spiel war unglaublich für den neutralen Fan. Ich hatte die Zuschauer nie auf meiner Seite. Ich weiß, dass wir zwei Weltkriege und eine Weltmeisterschaft gewonnen haben, aber hier waren so viele Deutsche. Alles, was ich hören konnte, waren diese Jungs. Oh, was für ein Spiel!"
Das Interview wurde wenig später von Sky-Moderatorin Anna Woolhouse aufgegriffen. Sie entschuldigte sich bei den Zuschauern für die Worte von Williams. "Scott Williams hat zum ersten Mal in seiner Karriere das Achtelfinale erreicht. Er war einfach ein bisschen glücklich darüber. Wir müssen uns entschuldigen, wenn Sie sich von diesen Worten beleidigt gefühlt haben."
Merkwürdig war die Aussage von Williams auch deshalb, weil das Publikum spätestens mit Beginn seiner Aufholjagd mehrheitlich eher auf seiner Seite war und eher Schindler Sänge bekam.
Williams selbst entschuldigte sich noch am Abend mit einem Statement auf X. Seine Worte seien "ein bisschen dumm" gewesen und "in der Hitze des Gefechts" entstanden. "Es war nicht beabsichtigt, die Gefühle von irgendjemandem zu verletzen, und ich entschuldige mich vielmals", so Williams.
Den Weltkriegsvergleich seines Gegners hatte Martin Schindler gar nicht mitbekommen, brauchte er aber auch gar nicht, um von Williams an diesem Tag genervt zu sein. "Ich nehme es den englischen Fans nicht übel. Dass die für ihren Landsmann sind, wenn ein Engländer gegen einen Deutschen spielt, ist eine ganz normale Sache. Das ist in Deutschland nicht anders. Aber ich habe mir persönlich immer gesagt, dass ich die Fans nicht dazu ermutigen will, immer mehr zu buhen und zu pfeifen. Scott Williams hat das heute gemacht."
Die deutschen Hoffnungen bei der Darts-WM ruhen nach dem Doppel-Aus von Martin Schindler und Gabriel Clemens jetzt auf Florian Hempel und Ricardo Pietreczko. Beide spielen am morgigen Donnerstag um den Einzug ins Achtelfinale. Hempel ist gegen den stark aufgelegten Stephen Bunting klarer Außenseiter, auch Ricardo Pietreczko braucht in der Partie gegen Topfavorit Luke Humphries eine dicke Überraschung. Erneut handelt es sich um zwei Spiele zwischen Deutschland und England. Nach diesem Tag führt das Darts-Mutterland mit 2:0.
Quelle: ntv.de