Soloritt über das "Dach der Tour" Geschke krönt sich mit Husarenstück
23.07.2015, 07:08 Uhr
Kann man sich ruhig mal freuen: 161 Kilometer insgesamt, davon 45 allein. Simon Geschke bejubelt seinen Parforce-Ritt.
(Foto: picture alliance / dpa)
Dass Radfahrer nach 161 Kilometer sprachlos sind, ist verständlich. Zumal wenn es über den höchsten Punkt der Tour de France geht. Doch nach der 17. Etappe fehlen dem Berliner Geschke noch aus ganz anderen Gründe die Worte.
Die 102. Auflage der Großen Schleife durch Frankreich wird immer mehr zur Tour d'Allemagne in Frankreich: Mit Simon Geschke vom Team Giant-Alpecin steht bereits zum fünften Mal ein deutscher Radfahrer ganz oben auf dem Treppchen. Für den 29-Jährigen ist es nach aufopferungsvollem Soloritt der erste Triumph beim bedeutendsten Radrennen der Welt. Und auch Sprintstar Marcel Kittel hatte ein gute Nachricht.
Der vor der Tour aussortierte und achtmalige Tour-Etappensieger Kittel will trotz seiner kontroversen Ausbootung bei der Mannschaft bleiben. "Marcel hat einen laufenden Vertrag bis Ende 2016 und ist gewillt, diesen zu erfüllen", sagte sein Manager Jörg Werner.
Geschke schloss die 17. Etappe nach Pra Loup mit einem Husarenritt ab. Damit bescherte er dem ambitionierten Team den ersten Erfolg bei der diesjährigen Ausgabe. "Wahnsinn", twitterte Kittel, dessen kontroverses Tour-Aus Geschkes Start überhaupt erst ermöglicht hatte
"Schönster Tag meines Lebens"
Überwältigt von der Magie des Augenblicks rang Geschke um Fassung, immer wieder schossen ihm Tränen in die Augen. "Das ist ein unwirklicher Moment, der schönste Tag in meinem Leben. Davon habe ich immer geträumt", sagte der deutsche Radprofi.
Mit einem sagenhaften Soloritt über das "Dach der Tour" hatte Geschke sich selbst und seine Gegner verblüfft. In insgesamt 161 kräftezehrenden Kilometern nach Pra Loup war er zum größten Erfolg seiner Karriere geflogen. Überschwänglich feierten seine Teamkollegen den bärtigen Berliner im Ziel, der sich trotz des verdienten Lohns für seine treuen Helferdienste aber nicht von seinem Markenzeichen trennen wollte: "Ich werde mich erst rasieren, wenn ich das Gesamtklassement der Tour gewinne. Das wird aber nie passieren."
In den ersten beiden Wochen hatte sich Geschke für seinen Kapitän John Degenkolb (Gera) aufgeopfert, er kämpfte in den Massenankünften den Weg frei und erwies sich als Teamplayer. Doch die Zeit der Sprinter ist bei der Tour 2015 vorerst vorbei, und so durfte Geschke seine Chance ergreifen. Am Montag hatte es auf dem Weg nach Gap nur zu Platz vier und der "Holzmedaille" gereicht, nur zwei Tage später hatte das Warten auf "einen perfekten Tag" aber ein Ende.
"Im Tunnel über der Schmerzgrenze"
Geschke war zunächst Teil einer großen Fluchtgruppe. Rund 45 Kilometer vor dem Ziel suchte er sein Glück als Einzelkämpfer. Auf dem Weg zum Col d'Allos, dem höchsten Punkt der diesjährigen Tour, bewies er seine Kletterqualitäten. Auch auf der halsbrecherischen Abfahrt, auf der sein Verfolger Thibaut Pinot (Frankreich/FDJ) stürzte, blieb er cool.
Der erneut fordernde Anstieg ins Ziel wurde für Geschke dann zu einer quälenden Tortur, die sich lohnte. "Im letzten Anstieg bin ich im Tunnel über der Schmerzgrenze gefahren", sagte er. "Ich habe es mit der Brechstange probiert, ich hatte keine Lust, nochmal Vierter oder Fünfter zu werden." Bereits auf den letzten Metern war die Anstrengung in seinem Gesicht einem Lächeln gewichen. "Ich habe noch nicht so viel gewonnen in meiner Laufbahn", sagte Geschke.
Im Kampf um den Gesamtsieg setzte Christopher Froome seine One-Man-Show fort, der Brite steuert seinem zweiten Gesamtsieg ungebremst entgegen. Der 30 Jahre alte Träger des Gelben Trikots wehrte alle Angriffe der Konkurrenz mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit ab. Froome profitierte zudem vom Pech seiner Gegner: Giro-Sieger Alberto Contador (Spanien/Tinkoff-Saxo) musste in der Abfahrt vom Col d'Allos das Rad wechseln und verlor wertvolle Zeit. Der Amerikaner Tejay van Garderen (BMC Racing), vor Etappenbeginn Dritter der Gesamtwertung, verlor von einer Krankheit geschwächt Schon an der ersten und vergleichbar leichten Bergwertung den Anschluss an die Top-Favoriten.
Einzig der Kolumbianer Nairo Quintana (Movistar) kann Froome den zweiten Gesamtsieg nach 2013 noch ernsthaft streitig machen. Der Rückstand des zweitplatzierten Bergflohs aus den Anden beträgt allerdings bereits 3:10 Minuten.
Quelle: ntv.de, jwu/dpa/sid