Sport

DHB-Team redet Qualität zurück Harte Worte führten aus der "Scheiße" ganz nah an die Sterne

Sebastian Heymann lieferte gegen Ungarn eine starke Leistung.

Sebastian Heymann lieferte gegen Ungarn eine starke Leistung.

(Foto: picture alliance/dpa/Revierfoto)

Große Taten bringt die deutsche Handball-Nationalmannschaft bei der Heim-EM auf die Platte - nur wenige Stunden, nachdem man sich selbst verbal an die Wand genagelt hatte. Es wird viel gesprochen und den großen Taten gingen große Worte voraus.

Der deutschen Handball-Nationalmannschaft stand nach dem zweiten Hauptrundenspiel bei der Heim-EM das Wasser bis zum Hals: Mit einem enttäuschenden 22:22 gegen das Sensationsteam Österreich gab das DHB-Team den ersehnten Einzug ins Halbfinale aus der Hand. Und was haben sie sich nach einem Spiel mit 22 Fehlwürfen und elf Ballverlusten selbst an die Wand genagelt: "Scheiße" habe man gespielt, schimpfte Kai Häfner. "Grausam" (Bundestrainer Alfred Gislason)! "Stückwerk" (Timo Kastening)! "Riesen-Enttäuschung" (Kapitän Johannes Golla)!

Die Reaktionen aus der Mannschaft auf die eigene Leistung grenzten an verbale Selbstverletzung. Die Vorstellung des Teams hatte allenthalben für Ratlosigkeit gesorgt. "Das war unglaublich schlecht von uns und bringt uns womöglich um unsere Ziele", schimpfte Kapitän Johannes Golla.

48 Stunden später hatte sich die Situation dramatisch, ja spektakulär geändert: Gegen Ungarn lieferte die deutsche Mannschaft, die gegen Österreich sogar irgendwann Angst hatte, überhaupt aufs Tor zu werfen, eine begeisternde Leistung ab. Das 35:28 ließ die 19.750 Zuschauer in der Kölner Lanxess-Arena toben, die Spieler feierten die emotionale Rückkehr zur Euphorie und sich selbst. "Der Schlüssel zum Sieg war zu 100 Prozent der Mut", sagte Linksaußen Rune Dahmke hinterher. Und Christoph Steinert, der in der Abwehr und auf der ungewohnten Rechtsaußenposition mit vier Treffern überzeugte, verriet: "Der größte Unterschied zum Österreich-Spiel war das Selbstvertrauen!"

"Harte Worte gehören dazu"

Den Mut hatten sie herbeigeredet nach der Beinahe-Katastrophe gegen Österreich, als völlig unterging, dass sie in den letzten Minuten einen Fünf-Tore-Rückstand aufgeholt hatten. Es gab reichlich Gesprächsbedarf: "Wir haben in den letzten beiden Tagen unheimlich viel kommuniziert. Wir haben extrem offen miteinander gesprochen", verriet Spielmacher Juri Knorr nach der emotionalen Wiederauferstehung seiner Mannschaft. "Harte und ehrliche Worte gehören dazu. Dass man Tatsachen anspricht, Dinge, die nicht so gut liefen. Damit kann, glaube ich, jeder ganz gut umgehen", berichtete der gegen Ungarn begeisternde Julian Köster aus dem Innenleben des Teams.

"Es ist gerade in einer homogenen Mannschaft wichtig, dass man Sachen offen und ehrlich anspricht. Wenn es Missstände gibt, dann muss man mit dem Finger darauf zeigen", sagte der im bisherigen Turnierverlauf überragende Torwart Andreas Wolff. "Wir haben uns vorher gesagt, dass jeder Freiraum für Fehler hat, solange er mutig bleibt. Das war das Wichtigste, das wir vorher besprochen haben. Auch Alfred hat das noch mal ganz speziell angesprochen", sagte Rune Dahmke.

"Alfred", das ist der Bundestrainer Alfred Gislason. Der hatte nach der Enttäuschung gegen Österreich einzelne Spieler hart kritisiert, auch namentlich. Einer der Angesprochenen war Sebastian Heymann, nun lies der Bundestrainer seine große Kunst an seinem 25-jährigen Rückraumshooter wirken, der im Turnierverlauf offensiv noch kein Faktor war und mehr Fehlwürfe als Tore produziert hatte. "Ich soll mit Überzeugung aufs Tor gehen, alles reinschmeißen, was ich habe", verriet Heymann aus einem Gespräch mit dem Bundestrainer. "Ich darf Fehler machen bei ihm, er hat vollstes Vertrauen zu mir - und er sagte mir, dass ich noch extrem wichtig werden kann."

Heymann, der von zwei Kreuzbandrissen zerschundene und immer wieder zurückgekehrte Modellathlet mit dem härtesten Wurf im Team, nahm gegen die Ungarn sein Herz in die Hand - und traf viermal bei vier Versuchen. Der Göppinger, der im Sommer zu den Rhein-Neckar Löwen wechselt, ist nun voll im Turnier angekommen. Auch der bisher mit wenig Spielzeit bedachte Jannik Kohlbacher und der gegen Österreich völlig enttäuschende Kai Häfner zeigten gegen Ungarn ihre großen Qualitäten und ihren Wert für die Mannschaft.

"Den Moment nimmt uns keiner"

Die Leistungsexplosion Heymanns war nur eines, wenn auch das offensichtlichste Ergebnis dessen, was sie miteinander besprochen hatten. Die "phänomenale" Angriffsleistung, die der Bundestrainer seinem zuvor so schwer hadernden Offensive bescheinigt hatte, war auch das Resultat langer, langer Videoanalysen. Trainiert hatte man zwischen beiden Spielen gar nicht mehr. Nur analysiert und geredet.

Es hatte sich gelohnt, als Reaktion auf die Erkenntnisse stellte die deutsche Mannschaft gegen die ungarischen Hünen eine wahnsinnig bewegliche, teils gefühlt hundertarmige Abwehr. Im Angriff tilgte man nicht nur die Erinnerungen an aus Angst und Zweifel geborenen Fehlwürfe, sondern kreierte nach einer kleinen Anlaufphase eine teils spektakuläre, immer intensive Offensive. Torwart Andreas Wolff, im bisherigen Turnierverlauf der überragende deutsche Spieler, freute sich, dass seine Vorderleute "das, was sie besprochen haben, super umgesetzt" haben.

Und dann war da noch der bewegende Auftritt von Alfred Gislason in den Stunden vor dem Befreiungsschlag gegen Ungarn: "Alfred hat noch mal ein paar schöne Dinge gesagt. Das hat uns auch noch mal zusammengeschweißt", verriet Juri Knorr. "Warum wir dankbar sein können für die Momente, die wir hier erleben können. Den Moment, den wir jetzt hier erleben, den nimmt uns keiner."

Sie wollen den Moment verlängern, diese Haltung brachten sie nach einem holprigen Hauptrundenstart erstmals überhaupt in Köln auf die Platte. Gislasons Rede hatte Eindruck gemacht, bei seinem Team: "Alfred ist ein erfahrener Mann, der viel über Analysen und Wissen kommt. Wenn so einer dann emotional wird, dann spüren wir das alle. Es hat uns beflügelt", erklärte Golla. Was genau der Bundestrainer gesagt hat, darüber hielten sie dich. Auch Gislason verriet die magischen Worte nicht: "Das ist intern", sagte der 64 Jahre alte Isländer und fügte mit einem entspannten Lächeln hinzu: "Wenn ich nichts dazu beigetragen hätte, wäre es schon sehr eigenartig."

Auch Juri Knorr hatte vor dem Spiel seinen ganz persönlichen Störfaktor in eine frische Energiequelle umgepolt: Der Spielmacher war nach einer übersichtlichen Vorstellung im ersten Hauptrundenspiel gegen Island (26:24) zur Zielscheibe der Kritik diverser Alt-Internationaler geworden: Im Dyn-Talk Harzblut sagte Handball-Legende Stefan Kretzschmar: "Juri muss mehr aus der Bewegung kommen, heute war es einfach zu statisch, da leiden auch die Halben drunter." Knorr habe "60 Minuten gedacht, es wäre sieben gegen sechs".

Knorr und Kretzschmar klären Dinge

Die Kritik hatte Knorr "natürlich" getroffen. "Ich nehme mir das natürlich zu Herzen und finde es in dem Moment einfach schade", sagte Deutschlands bester Torschütze: "Ich glaube, man sollte immer das große Ganze sehen, bevor man mit dem Finger auf den anderen zeigt." Knorr gefiel vor allem der Zeitpunkt der Kritik nicht. "Im Endeffekt läuft das Turnier jetzt noch und wir haben Chancen aufs Halbfinale. Wir sollten zusammen stehen und kämpfen bis zum Schluss." Beim Spiel gegen Österreich sei da noch Trotz gewesen, "ich glaube, das hat jeder Sportler in sich, dass man da noch ein bisschen mehr zeigen will".

Vor dem für den Turnierverlauf emotional und vor allem rechnerisch so wichtigen Spiel gegen Ungarn habe man die Sache aber vom Tisch geräumt: "Es ist alles gut, es ist alles persönlich geklärt", berichtete der Spielmacher, mit dessen Klasse und Form das sportliche Schicksal der Mannschaft eng verknüpft ist. "Es war ein Miteinander, ein Austausch, die kamen auf mich zu, worüber ich auch sehr dankbar bin."

In 48 Stunden haben sie eine Menge geklärt, untereinander und auch gegen externe Einflüsse. Nun wollen sie auch sportlich weiter die Dinge sortieren: Am Abend (20.30 Uhr/ARD und im Liveticker auf ntv.de) spielt die deutsche Mannschaft gegen Kroatien um den Einzug ins Halbfinale. Dann sollen aus großen Worten wieder große Taten werden.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen