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"Flugsaurier" plant langfristig Kasai hatte "richtig Angst", aber noch nicht genug

Noriaki Kasai blickt auch im hohen Sportleralter noch in die Zukunft.

Noriaki Kasai blickt auch im hohen Sportleralter noch in die Zukunft.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Noriaki Kasai ist eine Legende seines Sports: Niemand startet öfter im Skisprung-Weltcup als der Japaner. Doch die große Zeit von Medaillen und Erfolgen ist längst vorbei. Doch Kasai gibt nicht auf: Der 49-Jährige plant langfristig.

Noriaki Kasai, der Mann, der 1988 zum ersten Mal von einer Weltcup-Schanze hinuntersegelte, hatte Angst. Nein, "ich hatte richtig Angst", präzisiert der Japaner, der inzwischen 49 Jahre alt ist. Fast das Genick hatte er sich gebrochen, als ihn im Training zum Springen im finnischen Rovaniemi eine Windböe erwischt und mächtig durchgewirbelt hatte. Während andere Sportlegenden in diesem Alter längst launige oder haarsträubende Geschichten von damals erzählen, berichtet Kasai von seinem sportlichen Alltag. Der spielt sich längst ganz weit von der Weltspitze entfernt ab.

Ins Weltcup-Team der Japaner schaffte es Kasai nicht. Schon wieder nicht. Im November 2020 war ruchbar geworden, dass der Flugsaurier nach 32 Jahren, 569 Einzelstarts im Weltcup, drei Olympia- und acht WM-Medaillen sowie 17 Weltcup-Siegen künftig nicht mehr Teil der Springer-Elite sein würde. Seit er 1992 Skiflugweltmeister geworden war, hatte Kasai bis zum Winter 2019 an 28 Vierschanzentourneen teilgenommen, nur einmal hatte er wegen einer selbst auferlegten Pause gefehlt: Das war 1994/95. 2019 wollten sie ihn dann aber nicht mehr mitnehmen, Kasai flog aus dem Weltcup-Team und kehrte bis heute nicht mehr zurück.

Kobayashi hat ihm "so viel zu verdanken"

Die neue japanische Springergeneration um Überflieger Ryoyu Kobayashi ist ihm längst davongeflogen, der Superstar wird am Abend in Bischofshofen mutmaßlich zum zweiten Mal die Vierschanzentournee gewinnen, vielleicht zum zweiten Mal mit Siegen bei allen vier Springen. Das gelang noch nie zuvor einem Springer, es wäre der nächste Eintrag ins Geschichtsbuch des Sports.

Kasai dagegen ist sportlich längst Geschichte. 2014 holte er mit 41 Jahren noch olympisches Silber auf der Großschanze und Bronze mit der Mannschaft, im selben Jahr verbesserte er am 29. November mit seinem letzten Weltcup-Sieg in Kuusamo den eigenen Altersrekord: 42 Jahre und 176 Tage war er bei dem Wettbewerb alt, den Sieg teilte er sich mit dem Schweizer Simon Ammann, damals vergleichsweise zarte 33 Jahre alt - und in diesem Jahr ist er mit 40 Jahren immer noch dabei. Zehn Jahre war bei Kasais Altersrekord sein letzter Weltcup-Sieg her, neun schwache Jahre folgten - und auf einmal sprang der Oldie noch einmal für ein paar Jahre vorne mit.

Im Frühjahr 2015 flog er noch zur persönlichen Bestweite von 240,5 Metern. Im Skifliegen, wo Kasai mit seinem einzigartigen Fluggefühl die schwindende Athletik viel besser kompensieren kann, als auf den kleineren Schanzen, landete er sogar 2017 noch zweimal auf dem Treppchen. Dass er so lange, Erfolge hin, Legende her, überhaupt im Weltcup mitspringen durfte, lag auch an der Generation, die nach ihm kommen sollte - die war nämlich einfach zu schwach. Dass es für das japanische Team längst wieder deutlich besser läuft als im letzten Jahrzehnt, dafür ist Kasai selbst mitverantwortlich. "Ich habe ihm so viel zu verdanken", sagt Topstar Ryoyu Kobayashi. Als Sportdirektor des Tsuchiya-Teams, der Springer-Mannschaft eines Immobilien-Multis, brachte Kasai den Nachwuchs selbst auf Weltniveau.

Doch auch wenn er die Jungen dieser Tage bei der Vierschanzentournee längst nur noch aus der Ferne fliegen sehen kann, kann er nicht ablassen. "Skispringen gibt mir ein großartiges Gefühl", hat er in den Medien des Internationalen Olympischen Komitees einmal gesagt. "Es ist fabelhaft und etwas, das ich mit Worten kaum beschreiben kann." Es ist eine Sucht, das Loslassen fällt offenbar schwer. "Ich werde wahrscheinlich springen, bis ich 60 bin. Ich kann Ihnen versichern, dass mir die Geduld nicht mangelt", verriet er Ende Dezember bei einem Springen in Japan, in dem er sich mit der daheim verbliebenen nationalen Konkurrenz maß - und nach zwei Wettkampftagen 26. wurde. "Ich hatte vor, unter die Top Ten zu kommen, aber es ist nicht alles so gelaufen, wie ich es wollte. Es ändert nichts daran, dass ich es immer noch gut kann", sagte er japanischen Medien. Das polnische Portal skijumping.pl kommentierte süffisant: "Kasai scheint sich, wie er es gewohnt ist, nicht an seiner schlechten Form zu stören und bleibt positiv."

"Schon ziemlich enttäuschend"

Bei der japanischen Meisterschaft war er zuletzt im Oktober 22. geworden. "Das ist schon ziemlich enttäuschend", kommentierte der stets freundliche Sport-Senior das Desaster. Ob es jetzt nicht doch an der Zeit wäre, mit dem Springen aufzuhören, fragten sie den Mann, der vor drei Jahren seinen letzten Weltcup-Punkt geholt hatte. Da wurde Kasai kurz resolut: "Ich habe noch nicht meine ganze Kraft verloren. Ich werde zwar nächstes Jahr 50, doch ich werde weitermachen." Dass es nicht einfacher werden würde für ihn, war ihm, der bei seinen neunten Olympischen Spielen 49 Jahre alt wäre, aber schon längst klar: "Wenn es gut läuft, starte ich im Continentalcup", sagte er nach seinem erzwungenen Abschied aus dem Weltcup-Team. "Egal, wo ich hingeschickt werde, möchte ich ohne zu murren meine Leistung bringen." Das gilt weiterhin.

Und so springt er noch immer und immer weiter. In Japan bewundern sie den Altmeister weiterhin, als Maskottchen wird er nicht gesehen - obwohl er zuletzt nicht mal mehr im zweitklassigen Continental-Cup springen durfte. Daheim ist er populärer als sein jüngerer, schon jetzt erfolgreicherer Nachfolger Kobayashi.

Was Kasai verwehrt ist, haben zwei andere Springer aus seiner Generation geschafft: Simon Amman, der gerade seinen wahrscheinlichen Abschied zum Saisonende angekündigt hat, springt noch mit, oft im Finaldurchgang. Weitestgehend unbeachtet ist dazu noch der Südkoreaner Heung-Chul Choi dabei. Der ist inzwischen ebenfalls 40 Jahre alt, sein Debüt im Weltcup feierte er am 20. Dezember 1997. Choi war dabei, als Martin Schmitt seine Glanzzeit hatte, er wurde Zeuge von Sven Hannawalds "Grand-Slam" bei der Tournee 2001/2002. Eine andere Skisprungzeit. Die Strahlkraft der Legende Kasai entwickelte Choi freilich nie: Bei der Vierschanzentournee steht ein 35. Platz im Gesamtklassement als beste Platzierung in den Büchern. Das war 1999/2000, in Oberstdorf schlug er als 30. sogar den großen Kasai, der den Finaldurchgang verpasst hatte.

"Dann eben vier Jahre später"

Sportlich hat sich Choi bei seiner 23. Teilnahme an der Vierschanzentournee allerdings nicht hervorgetan: In Oberstdorf und beim Ersatzspringen in Bischofshofen wurde Choi Vorletzter - in der Qualifikation wohlgemerkt. In Garmisch wurde er sogar Letzter. Immerhin: Als Anerkennung für seine drei Gold-Medaillen bei der in Asien ungeheuer bedeutenden Universiade bezahlt ihm sein Land eine lebenslange Rente. Es muss also tatsächlich noch Spaß machen. Und Choi, der in seiner Laufbahn im großen Skizirkus nie einen nennenswerten Erfolg feierte, hat dem großen Kasai wohl etwas voraus: In einem schwachen südkoreanischen Team darf er durchaus noch von einer Olympiateilnahme im Februar träumen. Der Schweizer Ammann hatte sich jüngst die Qualifikation für Peking schon gesichert.

Wenn es 2022 nicht mit Olympia klappt, sagte Kasai jüngst, "dann eben vier Jahre später." Oder noch später. "Ich möchte 2030 anstreben, wenn sich Sapporo als Gastgeber bewirbt." Kasai meint das ernst und die japanischen Medien hüten sich davor, ihm das als Altersstarrsinn auszulegen. Von "Besessenheit" schrieb "Asahi Shimbun" vor Kurzem, ja, aber das war voller Hochachtung gemeint. Dass der geliebte "Flugsaurier" wirklich noch einmal bei Olympischen Spielen antreten wird - es wären dann seine neunten - glaubt aber wohl niemand mehr, außer ihm.

Und so trainiert er weiter auf irgendein ungewisses Ziel hin und zu Hause müssen Frau Reina und die beiden Kinder hoffen, dass sich der Mann und Vater nicht noch im hohen Sportleralter um Kopf und Kragen springt. "Richtig Angst" hatte er in Rovaniemi, sagte Kasai. Mitbekommen hatte den dramatischen Beinahesturz im hohen europäischen Norden, so fern der Heimat, kaum jemand. Vielleicht ist es wirklich langsam an der Zeit.

Quelle: ntv.de

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