Der Mythos der Unsterblichkeit L'Alpe d'Huez entscheidet die Tour
25.07.2015, 09:26 Uhr
Christopher Froome bei der Tour 2015: Seine Dominanz bringt ihm eine Menge Neider ein. Am Ende könnte er zum zweiten Mal nach 2013 die Frankreich-Rundfahrt gewinnen.
(Foto: picture alliance / dpa)
Die Tour de France kehrt einmal mehr an ihren mythischsten Ort zurück: L'Alpe d'Huez. 21 Kehren bergauf, im Ziel winkt die sportliche Unsterblichkeit. Radsportfans freuen sich auf ein Spektakel - und auf ein letztes ultimatives Kräftemessen.
Auf Christopher Froome sind einmal mehr alle Blicke gerichtet. Der überragende Gesamtführende der 102. Tour de France steht auch am vorletzten Tag der Frankreich-Rundfahrt voll im Fokus der Medien, der Fans an der Strecke und seiner Konkurrenten im Peloton. Wird er sich auf dem nur 110,5 Kilometer langen Teilstück von Modane über den 2067 Meter hohen Col de la Croix Fer nach L'Alpe d'Huez eine Blöße geben? Wird der "Froominator" kurz vor dem Ziel in Paris schwächeln, gar einbrechen?
"Es kann noch viel passieren", sagt Ex-Tour-Sieger Alberto Contador noch vor einigen Tagen. Es folgen die Etappen 17, 18 und 19. Es hagelt Angriffe Contadors, ebenso vom Vorjahressieger Vincenzo Nibali und den beiden Movistar-Herausforderern Nairo Quintana und Alejandro Valverde.
Doch nichts passiert. Froome bügelt alle Attacken nahezu mühelos ab, büßt nur auf der Königsetappe nach La Toussuiere 30 Sekunden auf Quintana ein und geht mit einem uneinholbar scheinenden Vorsprung von 2:38 Minuten auf Quintana und 5:25 Minuten auf den drittplatzierten Valverde in die vorletzte Etappe. Aber das ist nicht irgendeine, denn am Zielort wartet die sportliche Unsterblichkeit. Es gilt den Mythos der Tour schlechthin am schnellsten zu bezwingen: Alpe d'Huez.
"Mörderische" nackte Zahlen

So schön können Kurven sein: Alpe d'Huez im "Curves"-Magazin.
(Foto: Stefan Borgner, "Curves"-Magazin)
1803 Meter hoch gelegen, 13,9 Kilometer lang, 1073 Meter Höhendifferenz bei einer maximalen Steigung von 12 Prozent bei Kilometer 6,5 und einer durchschnittlichen Steigung von 8,19 Prozent: Das sind die nackten Daten von Alpe d’Huez, dem "Hollywood-Anstieg" der Frankreich-Rundfahrt.
So bezeichnete ihn einst der offizielle Tour-Historiker Jaques Augendre. Was erst einmal abschätzig klingen mag, könnte am Ende nicht passender sein, denn inmitten der 21 Kehren, die von oben nach unten nummeriert sind, findet ein wahnwitziges sportliches Spektakel statt, das auch Mont Ventoux, Galibier oder Tourmalet nicht liefern können.
Hunderttausende säumen die Straße, wenn der Tour-Tross sich anschickt, den Gipfel zu erklimmen. Das breite Asphaltband verengt sich zu einem schmalen Grat, links und rechts davon brüllen die Radsport-Fans ihre Idole förmlich nach oben. Die sehen nicht, wohin sie fahren: Er sei "blind" gefahren, "in der Mitte dieses Meeres aus Fans, das sich vor mir öffnete", sagt Marco Pantani nach seinem Sieg in Alpe d’Huez 1995. Wer die Bilder im Fernsehen sieht, weiß, dass der Tour-Sieger von 1998 nicht gelogen hat.
Startschwierigkeiten am "Berg der Holländer"

Marco Pantani bahnt sich einen Weg durch die Zuschauermasse am Anstieg (1997).
(Foto: picture-alliance / dpa)
1952, als Alpe d’Huez zum ersten Mal Teil der Tour ist, ist das noch anders. Fausto Coppi gewinnt ungefährdet. Tosenden Applaus gibt es nicht, an der Strecke sind kaum Zuschauer, stattdessen pure Langeweile. Das Fazit des damaligen Tour-Direktors ist ernüchternd: "Die Etappe bietet keinen Grund, für mehr Bergankünfte zu werben."
Nach diesem verbalen Todesstoß dauert es mehr als 20 Jahre, bis Alpe d’Huez wieder ins Tour-Programm rückt - einer glücklichen Fügung sei Dank: Da die Behörden der Region Isère sich nicht einigen können, wie der Tour-Tross in ihrer Hauptstadt Grenoble beherbergt werden soll, wird die 9. Etappe der Rundfahrt 1976 nach Alpe verlegt. Ein Hotelier in dem bekannten Wintersportort hat seine Hilfe bei der Unterbringung angeboten. Der Rest ist Geschichte: Der Anstieg hinauf nach Alpe d’Huez ist heute fast in jedem Jahr Bestandteil der Tour.
1976 siegt mit Joop Zoetemelk ein Niederländer. Die Nation ohne Berge vor der eigenen Haustür ist es auch, die das Gros der Sieger in den Folgejahren stellt. Insgesamt acht Siege gehen auf das Konto der Flachland-Radler. Die schnellste Fahrt den Anstieg hinauf auf den "Berg der Holländer" verbucht aber eben jener Pantani. 37:35 Minuten benötigt er für den Anstieg. Eine Zeit, die selbst der mittlerweile des Dopings überführte Lance Armstrong bei etwas kürzerer Strecke nicht unterbieten kann. Er braucht 2004 beim Bergzeitfahren hinauf eine Sekunde länger.
Und nun kommt Froome. Welche Zeit wird der 30-Jährige benötigen? Wird er wie bei seiner Aufsehen erregenden Pyrenäen-Klettershow nach La Pierre-Saint-Martin mit seiner unwiderstehlichen Stakkato-Trittfrequenz zum Sieg fahren? Oder schafft es die Konkurrenz um Contador, Nibali, Quintana oder Valverde doch noch, Froome menschlich zu machen? "Es wird der letzte große Test", sagt Froome selbst. Egal wer am Ende triumphiert, sportlich winkt in Alpe d'Huez die Unsterblichkeit.
Quelle: ntv.de