Sport

Seltene Medaille für Deutschland Irrer Marathon-Sprint schreibt mehrfach Leichtathletik-Geschichte

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Als erster deutscher Läufer seit mehr als 40 Jahren gewinnt Amanal Petros eine WM-Medaille im Marathon. In der knappsten Entscheidung bislang fehlt ihm nur eine Winzigkeit zu Gold. Doch statt sich zu ärgern, denkt Petros im Moment seines größten Erfolgs an seine Familie im Kriegsgebiet.

Immer wieder schaut sich Amanal Petros um. Er ist der Führende, der Gejagte. Auf den letzten Metern dieses Marathons, dessen Anfang (wegen eines Fehlstarts) und Ende (wegen der folgenden Szenen) eher an einen 100-Meter-Sprint erinnert als an ein Ausdauerrennen, hat sich der Deutsche an die Spitze gesetzt. Einzig Alphonce Felix Simbu aus Tansania kann im entscheidenden Moment noch folgen. Er scheint Kraft daraus zu schöpfen, dass Petros sich umschaut.

Denn Simbu kommt mit jedem Schritt näher, bis sich die beiden Läufer gemeinsam ins Ziel werfen. Zeitgleich nach 2:09:48 Stunden. Mit bloßem Auge ist kein Sieger zu erkennen, erst das Zielfoto sorgt für Klarheit: Simbu hat die 42,195 Kilometer 0,03 Sekunden schneller hinter sich gebracht als Petros. Gold für Tansania, Silber für Deutschland. Etwas mehr als 16 Zentimeter Vorsprung lassen sich für Simbu ausrechnen, wenn man davon ausgeht, dass er und Petros den kompletten Marathon in gleichbleibender Geschwindigkeit absolvieren.

Petros sagt anschließend über die finalen Meter, er habe vor dem Ziel "so einen Krampf gekriegt" und deshalb "wirklich nicht volle Pulle laufen" können. Dieser Kampf gegen die Erschöpfung ist ihm während seines Sprints anzusehen: Das Gesicht ist verzogen und der ganze Körper angespannt, bis er unmittelbar hinter der Ziellinie ausgepumpt zu Boden fällt. Kurz zuvor ist er noch siegessicher, "doch dann hat er mich auf dem letzten Meter erwischt."

Vorgänger Waldemar Cierpinski lobt "fleißigen Burschen" Amanal Petros

Wie absurd knapp es auf diesem letzten Meter wird, zeigt der Vergleich mit dem 100-Meter-Finale der Männer in Tokio am Abend vorher: Oblique Seville gewinnt in 9,77 Sekunden mit 0,05 Sekunden Vorsprung auf Kishane Thompson, die beiden Jamaikaner trennen dabei nach derselben Rechenmethode ungefähr 51 Zentimeter. Im kürzesten Finale der WM ist der Sieger problemlos zu erkennen, bei der längsten Entscheidung muss dagegen die Technik helfen, um das Ergebnis zu ermitteln.

Ein Ergebnis, das Geschichte schreibt, aus gleich mehreren Gründen. Für einen WM-Marathon ist es die knappste Entscheidung überhaupt: Noch nie waren Erster und Zweiter zeitgleich, noch nie war der Abstand nach 42,195 Kilometern so gering, noch nie musste das Zielfoto über den Sieg entscheiden. 2001 hatte der Äthiopier Gezahegne Abera bei seinem Goldlauf immerhin eine Sekunde Vorsprung auf Simon Biwott aus Kenia gehabt.

Für Tansania ist es die erste Goldmedaille überhaupt bei einer Leichtathletik-WM, das ostafrikanische Land rückt damit im ewigen Medaillenspiegel auf den mit Burkina Faso, Indien und Tunesien geteilten 65. Platz vor. Für Deutschland ist es die zweite Männer-Medaille im Marathon nach Waldemar Cierpinskis Bronze-Lauf für die DDR bei der ersten WM 1983. Cierpinski lobt Petros anschließend als "fleißigen Burschen", dem er "Gold gewünscht hätte", aber so sei eben der Sport: "Das ist großartig für Deutschland, dass er so einen tollen Lauf gemacht hat."

"Das ist für meine Mama"

Petros' Silberlauf ist nicht weniger als eine Sensation, wenn auch eine mit Ankündigung. Schon bei den Olympischen Spielen in Paris im Vorjahr will er vorn mitlaufen und ums Podium kämpfen, muss aber nach 32 Kilometern entkräftet aufgeben: die Nachwirkungen einer Corona-Infektion. "Der Körper ist komplett zerstört", sagte er vor knapp 13 Monaten und startete den Neuaufbau. Und das zahlt sich an diesem schwülen Morgen in Tokio aus.

Petros ärgert sich zwar hinterher im ARD-Mikrofon zwar kurz über den verpassten Titel und kündigt an, sich künftig nicht mehr umschauen zu wollen, wenn es noch einmal zu einem solchen Zielsprint kommen sollte. In erster Linie aber ist der 2012 aus Äthiopien nach Deutschland geflohene Ausnahmeläufer stolz auf seinen herausragenden Erfolg: "Für mich ist es eine riesengroße Geschichte, das zu erreichen", sagt Petros: "Das ist für meine Mama." Die lebt weiterhin in Äthiopien, im Kriegsgebiet ohne Strom und Internet, wie ihr Sohn erzählt: "Ich habe sie seit acht, neun Jahren nicht gesehen."

Sein großer Traum ist es, sie "mal irgendwann nach Deutschland einzuladen", erzählt der 30-Jährige, für den WM-Silber weitaus mehr ist als "nur" ein sportlicher Meilenstein: "Diese Medaille ist für mich eine riesengroße Integration als Deutscher." Und auch ein Ansporn, bei kommenden Großereignissen wieder anzugreifen: "Silber gibt mir Energie und steigert meine Motivation, dass ich große Wettkämpfe gewinnen kann." Der Ärger über den verlorenen Sprint schien da längst verflogen.

Quelle: ntv.de

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