Zu verrückt für den NBA-Titel? Phänomen Irving erzürnt und verzückt sie alle
24.04.2022, 08:26 Uhr
Kyrie Irving erzielte diesmal nur 16 Punkte gegen die Boston Celtics.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Er glaubt nicht an die Corona-Impfung, aber dass die Erde eine Scheibe ist: Kyrie Irving polarisiert wie kein anderer NBA-Star. Meist lässt er dafür auf dem Basketball-Court Taten sprechen. Diesmal sind seine Eskapaden aber ein Grund für den Fast-K.o. seiner Brooklyn Nets gegen die Boston Celtics.
Schon Stunden vor dem Spiel warten die Fans gleich in mehreren langen Schlangen vor der Barclays Arena in Brooklyn. Trikots mit den Namen Kyrie Irving und Kevin Durant dominieren die Rücken der Anstehenden. Hip Hop Musik von Notorious B.I.G., die um die Ecke aufgewachsene und 1997 erschossene Rap-Ikone, wummert durch den frühlingshaften Abend. Geht es nach den Anhängerinnen und Anhängern der Brooklyn Nets, duftet es nach Aufbruchstimmung.
Denn eines ist allen hier klar: Es geht um alles für das NBA-Team aus dem Osten New Yorks. Nach zwei Niederlagen in der ersten Runde der Playoffs bei den Boston Celtics, das seit Januar vielleicht beste Team der Liga mit dem deutschen Nationalspieler Daniel Theis, muss ein Sieg her, ansonsten ist die angepeilte Suche nach dem Titel wieder mal vorüber, bevor sie überhaupt richtig beginnen konnte. Der Druck ist enorm vor der dritten Partie. Do or die, nennen die US-Amerikaner das. Alles oder nichts.
Eine Situation wie gemacht für einen der echten Superstars der Liga, den nur knapp 190 Zentimeter großen Aufbauspieler, der sich hier in hellblauen Schuhe warm dribbelt und einwirft? Eine Situation für Kyrie Irving? Der 30-Jährige ist der NBA-Starspieler, über den zu Zeit weltweit am meisten diskutiert wird. Aus mehreren guten Gründen. Irving ist Showtime, unfassbare, spielentscheidende Basketball-Momente und Kopfschütteln (positiver wie negativer Art) in einem. Irving polarisiert und spaltet die Geister, aber er lässt mit Sicherheit niemanden kalt. Irving begeistert die einen, Irving erzürnt die anderen. Sportlich überzeugen kann er an diesem Abend jedoch nicht. Nach einer fehlerhaften Vorstellung verliert Brooklyn am Samstagabend (Ortszeit) mit 103-109.
Kurze Kyrie-Irving-Show
Trotz einer Mega-Performance von Irving mit 39 Punkten verpatzen die Nets schon die Auftaktpartie vor einer Woche in der letzten Sekunde. Der Point Guard legt sich mehrfach mit den Fans in Boston an und zeigt ihnen den Mittelfinger, wofür ihn die NBA mit einer Geldstrafe von 50.000 US-Dollar belegt. Er habe den Fans "die gleiche Energie entgegengebracht wie sie mir", sagt Irving. Wenn Fans ausfällig würden, könne er das nur bis zu einer gewissen Grenze einstecken. "Wir sind diejenigen, von denen erwartet wird, sanftmütig und demütig zu sein - scheiß drauf, es sind die Playoffs."
Am Mittwoch im zweiten Spiel kämpfen sich die Celtics nach einem Rückstand von 17 Punkten zurück und gewinnen dank einer starken zweiten Hälfte, in der sie Irving und Durant nur einen von 17 Wurfversuchen treffen lassen. Irving erzielt für die Erwartungen an einen Superstar schwache zehn Punkte, acht Rebounds und nur einen einzigen Assist bei zwei Ballverlusten. "Wir haben keine Zeit, enttäuscht zu sein", sagt der Point Guard im Anschluss. Mannschaften, die die ersten beiden Spiele einer Best-of-Seven-Serie zu Hause gewonnen haben, entscheiden die Serie in 94 Prozent der Fälle für sich. Auch für die Nets wird jene Statistik wohl zur Wahrheit.
Ausnahmetalent Irving ist es, der an diesem Samstagabend in Brooklyn die ersten Punkte im Spiel 3 erzielt und anschließend immer wieder versucht, die Kontrolle zu übernehmen. Unwiderstehlich umkurvt er seine Verteidiger und zieht gegen die Riesen in der Zone zum Korb. Seine Dribblings sorgen für Staunen, sein No-Look-Pässe für Uhs und Ahs auf den Rängen. Mal schließt er selbst per Korbleger, mal schüttelt er einen präzisen Alley-Oop-Pass zu einem Mitspieler aus dem Handgelenk.
Doch schon früh zeigt sich: Die Show ist diesmal nur von kurzer Dauer, von draußen fallen seine Würfe heute überhaupt nicht. Durant, der für einige Experten immer noch der beste Spieler der Welt angesehen ist, steuert auch weitaus weniger fleißig als sonst Punkte bei und nimmt im gesamten Spiel nur elf Würfe. Boston hält vor allem in Persona von Flügelspieler Jason Tatum dagegen und führt zum Ende des ersten Viertels und auch zur Halbzeit knapp. Zehn Zähler und fünf Assists stehen bis dato auf Irvings Konto. Man ist sonst mehr von ihm gewohnt.
"Scheiß auf Thankgsgiving"
Die Ausmaße des Phänomens Kyrie Irving werden verständlicher anhand der Tatsache, dass es unzählige verschiedene Artikel und Videos zu den Themen "Die verrücktesten Dinge, die Kyrie je gesagt hat" und "Die denkwürdigsten Possen von Kyrie Irving abseits des Parketts" im Internet. In diesen Sammlungen finden sich Anekdoten wie Irvings Aussagen, sich via Mediation mit dem ehemaligen Erfinder Nikola Tesla zu verbinden und dass Steaks "nicht aus der Natur kommen", Fragen des NBA-Superstars, ob das Internet echt sei, und natürlich seine Liebe zu Verschwörungstheorien. Sei es, berühmt berüchtigter Weise, die der Erde als Scheibe oder die einer "Ära ohne Geheimnisse". Irving glaubt anscheinend gleich an einige böse Mächte.
Mal weigert sich Irving mit den Medien zu sprechen, was in der NBA zu den Pflichtaufgaben der Spieler gehört, mal verschwindet er für ein paar Tage und verpasst Trainingseinheiten und Spiele, mal verunglimpft er einen der wichtigsten Feiertage der USA mit seiner Aussage "Fuck Thanksgiving" ("Scheiß auf Thanksgiving"). Mütterlicherseits stammt Irving von nordamerikanischen Ureinwohnern, und es braucht nicht viel Geschichtsunterricht, um zu verstehen, warum Natives Americans keine Fans von Thanksgiving sind. Aber wie so oft liegt es beim Superstar nicht so sehr an der Botschaft, sondern an der Art und Weise der Verbreitung der selbigen.
Jüngst sorgt Irving international für Aufsehen, weil er sich weigert, eine lebenswichtige Impfung zu bekommen. Da der Aufbauspieler der Nets bis heute nicht gegen das Coronavirus geimpft ist, darf er lange Zeit nicht für sein Team bei den Heimspielen in Brooklyn auflaufen. Erst kurz vor den Playoffs änderte New York die Regeln.
Es gibt allerdings genauso viele Ehrungen und Lobhundeleien für den NBA-Superstar im Netz, im TV, in Zeitungen, in Pausenhöfen, auf Basketball-Plätzen überall auf der Welt. Denn der Point-Guard hat laut vielen Fans und Experten die beste Ballbehandlung auf dem Globus. Besser als Stephen Curry, besser als Luka Doncic, besser als Chris Paul.
Salbei-Verbrennung in der Arena
Und auch im dritten Viertel dreht Irving zunächst auf, feuert seine Mitspieler immer wieder an. Später kann Boston aber auf zehn Punkte davonziehen, weil die Nets zu viele Fehler machen, weil Irving von der Dreierlinie keinen seinen bisher sechs Dreierwürfe trifft - und weil Tatum wie der Superstar spielt, als welcher der 24-Jährige sich immer mehr manifestiert. Nun stöhnen die Fans aus Brooklyn anstatt zu staunen. Irving will zwar unbedingt, doch ausnahmsweise gehorcht ihm das Spielgerät nicht wie gewünscht.
Dass der Aufbauspieler so engagiert zu Werke geht, liegt an seiner besonderen Beziehung mit den Celtics. 2017 verlässt er LeBron James und seine Cleveland Cavaliers in Richtung Boston. Dort soll er endlich alleiniger Chef eines Meisterschaftsaspiranten werden und eine Ära prägen. Doch nach einer Knie-Operation im März 2018, die die Spielzeit für ihn jäh beendet, sich stetig verschlimmernde Spannungen in Mannschaft und Kabine, und dem Ausscheiden aus den Playoffs in der zweiten Runde ein Jahr später verlässt Irving Boston in Richtung Brooklyn Nets. Die Celtics-Fans waren allerdings not amused, vor allem, weil Irving vor der Saison 2018/19 versichert, dass er wieder in Boston unterschreiben würde. Seitdem gibt es nichts als Feindseligkeit für den Aufbauspieler im TD Garden.
Bei seiner ersten Rückkehr in den TD Garden gegen die Celtics, die wegen der Pandemie ohne Fans stattfindet, wird Kyrie von den Kameras dabei erwischt, wie er in der Arena herumläuft und Salbei verbrennt. Ein Reinigungsritual der Native Americans, das negative Energie entfernen soll. Bei seiner ersten Partie als Spieler der Nets vor den Bostoner Fans, in der Playoff-Serie im vergangenen Jahr, wird er bei jeder Ballberührung ausgebuht.
Im Vorfeld des Spiels sagt Irving damals, er hoffe, dass es bei seiner Rückkehr "ausschließlich um Basketball" gehe und die Celtics-Fans "subtilen Rassismus" unterlassen würden. All diese Emotionen kochen über, als Irving beim Sieg im nächsten Spiel stark aufspielt und anschließend in der Mitte des Spielfelds auf das Kobold-Maskottchen der Celtics, Lucky, stampft. Während er das Spielfeld verlässt, verfehlt eine von der Tribüne geworfene Wasserflasche nur knapp den Kopf des Stars, was zu einer Festnahme führt.
Mit gesenktem Haupt vom Platz
Zurück im Barclays Center läuft es nun immer schlechter für die Nets im ersten Heimspiel der Serie. Vier Minuten vor Schluss nimmt Irving eine Art Verzweiflungsdreier von ein paar Metern hinter der Dreipunktelinie. Der Ball berührt gerade noch so den Ring, fällt dann aber in die Hände der Celtics. 101-88 lautet der Spielstand für die Gäste. Die Nets scheinen sich und das Spiel aufzugeben - und die ersten Zuschauer verlassen verärgert und enttäuscht die Halle.
Dann ereignet sich eine sinnbildliche Szene Sekunden vor Schluss, die der Übergabe eines Staffelstabs gleichkommt: Irving verliert an der Mittelinie den Ball an Tatum, der mit einem krachenden Dunking vollendet und in Alpha-Manier den Sieg feiert. MVP-Rufe der Boston-Fans hallen durch die Arena. Tatum, der schon die erste Partie der Serie entschied, spielt heute als einziger wie ein Star. 39 Punkte hat er am Ende auf dem Konto, mehr als Durant und Irving (jeweils 16 Zähler) zusammen. Von dem Gewinn einer Meisterschaft, für die dieses Team zusammengestellt wurde, wirken die Nets weit entfernt.
Mit gesenktem Haupt schleicht Irving vom Platz. Diesmal frusten die Fans nicht wegen seinen Eskapaden und Skandalen. Aber sie spielen auch bei dieser wohl entscheidenden Pleite eine Rolle: Für die Nets war es äußerst schädlich, dass der ungeimpfte Aufbauspieler so lange gar nicht und anschließend nur unregelmäßig spielte. Das Team konnte sich nie wirklich finden und einspielen und das ist der große Unterschied im Vergleich zur eingeschworenen Truppe der Celtics.
"Irving ist ein toller Spieler", sagt ein Celtics-Fan vor der Partie. "Aber mit seinen ganzen Einstellungen stimme ich nicht unbedingt überein." Dann muss er weiter. Sein 5-jähriger Sohn hat nur Augen für Jayson Tatum, der soeben das Parkett betritt, um sich warmzuwerfen. Der skandalfreie 24-Jährige ist nun der Auserwählte für Boston, der Irving nie sein konnte.
Quelle: ntv.de