Fan-Disput, Schläger zertrümmert Selbst Djokovic-Ausraster zerrupft Alcaraz-Attacke nicht
17.07.2023, 05:32 Uhr
Kurz vor dem Ende des Wimbledon-Finals rastete Novak Djokovic aus.
(Foto: picture alliance / AA)
Die Geburt des nächsten Superstars: Carlos Alcaraz verzaubert Wimbledon und feiert die epische Wachablösung von Novak Djokovic, den selbst seine Wut und eine Becker-Rolle nicht retten. Ein 20-Jähriger schlägt den schier Unbesiegbaren - in einem der besten Tennis-Krimis aller Zeiten.
Erinnern Sie sich daran, wo Sie dieses Spiel gesehen haben. Diesen epischen Clash. Wo Sie staunen, jauchzen und ihren Kopf schütteln durften. Wo Sie Zeuge von etwas Bedeutendem geworden sind: Zeitenwechsel, Wachablösung, Staffelstabübergabe. Wie auch immer Sie es nennen wollen. Es geht an diesem Sonntagabend um all die historischen Dinge, die noch in Jahrzehnten für Geschichten sorgen werden. Es geht um die Geburt eines neuen Superstars, der zur Legende reifen könnte.
Der Wimbledon-Sieger 2023 heißt Carlos Alcaraz. Und nicht Novak Djokovic. Das Finale zwischen dem Spanier und dem Serben wird als eines der größten in die Historie des Tennissports eingehen. Denn die Sensation ist perfekt. Es gibt einen neuen König. Und er ist nur 20 Jahre alt. Mit 1:6, 7:6 (8:6), 6:1, 3:6, 6:4 behält der Youngster in einem beinahe fünfstündigen Krimi die Oberhand. Samt Boris-Becker-Rollen, Schläger zertrümmern und Fehden mit dem Publikum. Welch. Ein. Duell.
Alcaraz hat nicht einfach Wimbledon gewonnen. Er hat einen der Besten aller Zeiten geschlagen. Einen Mann, der auf diesem Platz praktisch unbesiegbar war. Der in diesem Jahr sein vielleicht bestes Tennis spielte. 45 Spiele hatte der Weltranglistenzweite auf dem Centre Court von Wimbledon nicht verloren, 34 Partien in Serie hatte er in London gewonnen. "Beckers Wohnzimmer" hätte längst in "Djokovic' Heimathafen" umbenannt werden müssten, so wohl fühlt er sich auf dem Heiligen Rasen. Und dann kam der beste 20-Jährige, der jemals einen Tenniscourt betreten hat.
"Für mich wird ein Traum wahr"
Dies könnte der Beginn einer Dynastie sein. Wer wird diesem Alcaraz in den nächsten Jahren das Wasser reichen können? Es ist schwer, jemanden zu finden. Selbst Djokovic wird seine liebe Mühe mit ihm haben. Denn der Jungspund, der vor Wimbledon erst drei Turniere auf Gras gespielt hatte, wird einfach immer besser. Wo soll das nur enden?
Das fragt sich auch der Serbe. "Erstaunlich, was du geschafft hast", sagt Djokovic nach der Partie zu seinem Kontrahenten. "Erstaunlich, wie du dich an den Rasenbelag angepasst hast. Du hast es dir verdient. Und ich dachte, ich würde nur auf Sand und Hartplatz Probleme mit dir bekommen." Lacher beim Rekordchampion und im Publikum. Aber jeder weiß, wie viel Wahrheit in den Sätzen steckt. Alcaraz ist die Nummer eins der Welt, hat zwei Grand-Slam-Titel in der Tasche - und schon in ganz jungen Jahren die Tenniswelt verzaubert.
"Für mich wird ein Traum wahr", jubelt Alcaraz unter tosendem Applaus. Die Fans haben ihn das komplette Spiel über gepusht, der Großteil der Sympathien ruhte auf dem Spanier. "Bei diesem schönen Turnier Geschichte zu schreiben und gegen eine Legende zu spielen", etwas Schöneres könne er sich nicht vorstellen. 15 Jahre und 348 Tage ist er jünger als sein Kontrahent und sagt: "Ich habe angefangen, Tennis zu spielen, indem ich dir zugeschaut habe. Als ich geboren wurde, hast du schon Turniere gewonnen. Das ist unglaublich."
Damit könnte nach der Machtübernahme, nachdem sich Alcaraz in Wimbledon die Tenniskrone geschnappt hat, bald Schluss sein für Djokovic. Nun aber rein ins Match. Anschnallen. Festhalten. Los geht's. Von Brad Pitt über Kate Middleton bis zum spanischen König sind schon alle da.
Djokovic im Clash mit dem Publikum
Es beginnt mit einer wahnsinnigen Zurschaustellung der Macht. Der puren Dominanz. Und zwar von Seiten Djokovic'. Nach 28 Minuten führt er 5:0. Dabei hatte das hier doch ein ausgeglichenes Duell werden sollen. Wachablösung? Nix da. Der junge Alcaraz ist nervös, einfache Vorhände landen im Aus, die Aufschläge sitzen nicht. Während die serbische Maschine eiskalt ihr dominantes Tennis abspult, ohne Fehler zu machen und sich den ersten Satz sichert.
Alcaraz weiß nun, dass er den nächsten Durchgang nicht verlieren darf. Drei Sätze in Folge gegen den Serben? Quasi unmöglich. Zusätzlich Druck also, aber endlich wirkt Alcaraz gefestigter, wie der Spieler, der in den vergangen zwei Wochen die Tenniswelt in London begeisterte. Jetzt gewinnt er auch längere Ballwechsel, seine Vorhand-Peitschen und krachenden Rückhände finden ihr Ziel. Der Spanier holt ein Break - ein erstes richtiges Lebenszeichen.
Der Youngster ist der tonangebende Spieler. Doch Tennis ist ein schneller Sport und Djokovic kann ausgleichen. Der Serbe lässt einen Urschrei in Richtung Publikum los, das den Spanier weitaus stärker unterstützt, und ballt beide Fäuste. Der Beginn einer persönlichen Fehde an diesem Nachmittag. Mit einer ähnlichen Provokation hatte er schon im Halbfinale für Aufsehen gesorgt. Ab diesem Moment entwickelt sich ein epischer Kampf. Es ist endlich die spannende und ausgeglichene Partie, die sich alle gewünscht hatten.
Beim Stand von 3:3 packt Djokovic sogar die Becker-Rolle aus, doch Alcaraz gewinnt den hart umkämpften Punkt. Das Publikum liebt und feiert es. Auch der Spanier legt eine Becker-Rolle aufs Grün, auch diese misslingt. 4:4. Kurz darauf interagiert Djokovic wieder mit dem Publikum, das ihn nach seinem Geschmack zu wenig feiert. Prompt folgen "Nole"-Rufe. Der Serbe will geliebt werden, wie einst Roger Federer und Rafael Nadal. Auch das treibt ihn an, der Allerbeste zu sein. Respekt durch Leistung, wenn schon keine Liebe.
25-Minuten-Epos in Satz 3
Im Tiebreak gelingt Alcaraz eine seiner größten Meisterleistungen an diesem Nachmittag. Es ist ein Signal dafür, was für ein Mentalitätsmonster der Youngster bereits ist und warum er ein ganz Großer werden kann. Djokovic hat zuvor 13 Tiebreaks in Serie gewinnen können, was seine psychische Überlegenheit gegenüber dem Rest des Tennisfeldes zeigt. Alcaraz, der auf keinen Fall weiter ins Hintertreffen geraten darf, spürt den zusätzlichen Druck und liegt schnell mit 0:3 hinten. Doch in der Manier eines Champions gleicht er aus und mit einem seiner so verflucht schwer zu erahnenden Stoppbälle als Ende eines kraftvollen Grundlinien-Schlagabtauschs geht er mit 5:4 in Führung. Als Nächstes wehrt er einen Satzball ab und vollendet dafür seinen eigenen beim Aufschlag des Serben mit einem Return der Extraklasse, Marke Novak Djokovic.
Die Ränge explodieren förmlich. Sogar die Royal Box springt auf. Alcaraz hält sich die Hand als Muschel ans Ohr. Von seinem typischen frechen Grinsen ist im Moment nicht viel zu sehen. Er ist vollkommen fokussiert. Djokovic dreht sich zu Trainer Goran Ivanisevic um und fragt: "Wo ist mein Spiel geblieben?"
In Satz drei kommt es zu wohl einem der epischsten Spiele in einem Finale. Unfassbar 26 Minuten dauert der Aufschlag von Djokovic, zwölfmal geht es über Einstand. Mehrmals legt sich der Serbe mit dem Schiedsrichter an, es hagelt Buhrufe. Djokovic ist verunsichert, was nicht oft vorkommt, vor allem nicht in Endspielen. Alcaraz muss seinen Vorteil jetzt ausspielen, bevor der Serbe wieder aufwacht. Denn er wird wieder aufwachen. Er ist Novak Djokovic. Und tatsächlich macht der Spanier den Spielgewinn mit dem siebten Breakball und anschließend auch den dritten Satz klar.
Alcaraz hat das Beste von Federer, Nadal und Djokovic
Aber ein Rekordchampion steht immer wieder auf. So auch in diesem Endspiel. Alcaraz hat zwar zunächst auch im vierten Durchgang die besseren Momente, einen Smash wehrt er mit einem unglaublichen Winner ab, und sieht schon wieder wie der Sieger aus. Aber dann kommt Djokovic, holt sich zunächst ein Break aus dem Nichts und dann den Satz. Immer noch genervt von den Fans mit Alcaraz-Sympathien, wirft er ein wohl eher ironisch gemeintes Handküsschen auf die Ränge. Djokovic ist ein Meister darin, das Unmögliche möglich zu machen. Vor vier Jahren hatte er im Finale gegen Federer zwei Matchbälle gegen sich und gewann trotzdem. Im Vergleich dazu ist das hier ein Kinderspiel.
Doch gegen diesen Comeback-König, gegen den wohl komplettesten Spieler aller Zeiten, reißt Alcaraz einen fünften Satz der Extraklasse ab. Mit Nerven aus Stahl kratzt er jeden Ball aus den Ecken, flitzt mit unglaublicher Beinarbeit wie ein Michael Chang über den Court, baut dann wieder einen seiner gefürchteten Stopps ein - um ein anderes Mal eine eingesprungene Vorhand aus einer anderen Dimension, eine die Schallmauer durchbrechende Rakete, auf den Rasen zu schleudern. Die Zuschauerinnen und Zuschauer können es kaum fassen, so gut ist das.
Es wirkt, als habe der Spanier Federer, Nadal und eben Djokovic sein Leben lang beobachtet, um sich das Beste der drei Legenden anzutrainieren: die defensive Bewegung in den Ecken vom Serben, die wunderschöne Slice-Rückhand und das Netz-Spiel des Schweizers und die Vorhand und den Kampfgeist von seinem Landsmann. Auf solch einen Werkzeugkoffer konnten selbst diese Ikonen zu ihren Anfängen noch nicht zurückgreifen.
Der König ist tot, lang lebe der König
Vor den Augen der gesamten Tenniswelt entsteht in diesem Moment ein neuer Superstar. Die Wachablösung, die Entthronung des Königs, ist vollbracht. Auch wenn Djokovic natürlich mit umso mehr Feuer zurückkommen wird und noch lange kein Auslaufmodell ist. Aber dieser Alcaraz ist speziell. Gemacht für die ganz großen Momente, das spüren hier alle.
Nach dem entscheidenden Break des Spaniers zertrümmert der völlig frustrierte Serbe seinen Schläger am Netzpfosten. Buhrufe und eine Delle im Pfosten sind die Folge. Ein Psychospielchen kurz vor Schluss? Egal. Der Youngster lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Beim Stand von 5:4 folgt das wichtigste Aufschlagspiel in der Karriere des Carlos Alcaraz. Und was hat der Junge doch für Nerven: Nachdem er zum 0:15 einen Stoppball ins Netz schlägt, probiert er es direkt darauf noch einmal - mit Erfolg, ein frecher Lob bringt den Punkt im Anschluss. Dann sackt der 20-Jährige jubelnd zu Boden. Es folgt ein Urschrei. Der König ist tot, lang lebe der König!
Quelle: ntv.de