Holocaust, Bomben, Tennis-Traum Die gebrochene Heldin, die den Nazis entwischte
15.07.2023, 05:24 Uhr
Liesl Herbst entkam den Nazis und schaffte es bis nach Wimbledon.
(Foto: Privat)
Die jüdische Tennisspielerin Liesl Herbst flieht kurz vor dem Zweiten Weltkrieg vor den Nazis aus Österreich - und schlägt wenig später in Wimbledon auf. Ein Wunder. Doch Herbsts Leben wird dominiert von Tragik, Tod und Schuldgefühlen. Die Geschichte einer gebrochenen Heldin.
Wenn am heutigen Nachmittag die Königin von Wimbledon gekrönt wird, schreiben Ons Jabeur oder Markéta Vondroušová ihre ganz eigene Heldengeschichte. Wie das größte Tennisturnier der Welt seit 1877 schon so viele hervorgebracht hat. Keine aber ist wohl ähnlich atemberaubend und tragisch wie die von Liesl Herbst. Einer Heldin, die sich 1939 ihren persönlichen Traum erfüllte. Auf Umwegen. Gegen alle Widerstände. Wider das schrecklichste Verbrechen der Menschheit.
Der Jüdin Liesl Herbst gelang es, den Nationalsozialisten im Österreich der Vorkriegszeit zu entkommen und wenig später beim Rasenklassiker aufzuschlagen. Und doch sollte sie zeit ihres Lebens gebrochen sein. Es ist eine Geschichte von Flucht und Tod, von Glück und Unglück - von Nazis und dem Schuldgefühl der Überlebenden.
Die 1903 geborene Österreicherin hatte in der Heimat zwar erst in ihren Zwanzigern mit Tennis angefangen, doch 1930/31 gewann sie die nationale Meisterschaft. 1938 folgte Adolf Hitlers Einmarsch in Österreich, der sogenannte "Anschluss". Herbst sah sich antisemitischen Vorschriften gegenüber, die - nur ein erstes Anzeichen des kommenden Übels - unter anderem Jüdinnen und Juden den Tennissport verboten. "Meine Oma selbst nahm zunächst an, sie wäre nicht in Gefahr, weil sie eine bekannte Profispielerin und nicht religiös war", sagt Enkelin Felice Hardy, die die Geschichte ihrer Großmutter im Buch "The Tennis Champion Who Escaped the Nazis" aufgeschrieben hat, gegenüber ntv.de. "Mein Großvater aber warnte sie und sie floh aus Österreich in Richtung Prag."
"Schlug Tim Henmans Großmutter"
Teile der Flucht klingen wie aus einem Spionagefilm. Andere wie aus einem Drama. Herbst packte mehrere Tennisschläger ein und stieg in einen Zug nach Prag. "Unter dem Vorwand, dort ein Turnier zu spielen", erzählt Hardy, die die tragische Geschichte ihrer Großeltern erst nach und nach aufdeckte, als sie nach dem Tod ihrer Mutter einen ganzen Koffer mit Bildern, Briefen und Zeitungsausschnitten fand.
Von Liesl Herbsts Ausreise durfte niemand wissen. Der Schachzug ging auf. Ihr Mann David jedoch musste die Kristallnacht in Wien miterleben, versteckte sich und ließ sich dann über die Grenze schmuggeln. Lange war das Ehepaar mit ihrer kleinen Tochter Dorli, Felice Hardys Mutter, in der damaligen Tschechoslowakei nicht sicher. Wieder waren die Nazis auf dem Weg. Liesl und Dorli gelang es, nach England auszureisen, nachdem ihre Versuche, ein Visum für Australien oder Portugal zu bekommen, missglückt waren. David Herbst hatte wieder weniger Glück und musste über die verschneiten Berge nach Polen fliehen. Von dort flüchtete er später nach England.
Krieg zerstört Träume. Doch davon ließ sich Liesl Herbst nicht unterkriegen. Sie erreichte Großbritannien im März 1939 und wurde dank Kontakten im Queen's Club aufgenommen, dem seit 1886 bestehenden und berühmtesten Tennisklub neben dem Wimbledon-Ausrichter All England Lawn Tennis and Croquet Club. Auf diesem Wege gelangte die talentierte Tennisspielerin wenige Monate später in die Qualifikation für Wimbledon. "Auf dem Weg in die erste Runde schlug sie sogar Tim Henmans Großmutter", erzählt Hardy. Zwei weitere Gegnerinnen schaltete Herbst aus, obwohl sie in Österreich kein einziges Mal auf Gras gespielt hatte. Im Sommer war es dann so weit, die Geflüchtete schlug beim altehrwürdigen Rasenklassiker auf und erfüllte sich einen Lebenstraum. Ihre erste und einzige Partie verlor sie mit 2:6, 0:6 gegen die Britin Valerie Scott.
Eine gebrochene Heldin
Doch Liesl war eine gebrochene Heldin. Schreckliche Schuldgefühle plagten sie den Rest ihres Lebens. "Sie wurde nie wieder richtig glücklich, weil sie ihre zwei Schwestern, eine von ihnen hatte eine Behinderung, und ihre verwitwete Mutter zurücklassen musste", so Hardy, "die die Nazis allesamt ermordeten". 1942 wurden Liesls Mutter und eine Schwester, die sich noch in Prag aufhielten, zusammengetrieben und nach Theresienstadt deportiert. Nach nur 17 Tagen starb Liesls Mutter. Ihre Schwester überlebte lediglich fünf Wochen länger.
Liesls zweite Schwester war mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter aus Österreich in die Slowakei geflohen. Sie wurden ebenfalls 1942 gefasst und in das Konzentrationslager Nováky gebracht. Im Jahr 1944 wurde das Lager während eines slowakischen Aufstands befreit. Wie viele andere flohen auch Liesls Verwandte in die Wälder. Dort wurden sie von den Nazis gefangen genommen und anschließend zusammen mit 700 anderen Juden erschossen und in einem riesigen Massengrab verscharrt.
"Tennis war Art der Bewältigung für meine Großmutter", sagt Hardy. "Meine Mutter erzählte immer, dass meine Oma nicht die beste Technik, aber eine grandiose Ausdauer hatte. Sie konnte jeden in Grund und Boden laufen." Stärke im Sport, um die innere Verzweiflung zu unterdrücken. Laufen, um für einen Moment vergessen zu können. Tennis fungierte als ein Ventil für Liesl Herbst, die alles dafür gab, die Beste zu sein und der Welt die Stirn zu bieten. "Sie trug viel Wut in sich, auf das, was ihrer Familie passiert war", so die Enkelin.
Das Leben in England gestaltete sich für die Familie Herbst nicht einfach. "Es gab auch Antisemitismus in England", berichtet Hardy über die Startschwierigkeiten auf der Insel. Ihrer Mutter verbot Liesl daher zu verraten, dass sie jüdisch war, obwohl sie "als Feindin" behandelt wurde in der Schule. "Genau wie heute wollte die britische Regierung außerdem nicht viele Immigranten ins Land lassen", fügt Hardy hinzu, "da gibt es viele Parallelen. Meine Familie hatte sehr viel Glück, überhaupt aufgenommen worden zu sein." Und den Zweiten Weltkrieg samt deutschen Bombardierungen zu überleben.
Bomben auf Wimbledon
Die schlimmste Bombennacht in Wimbledon fand am 6. November 1940 statt. Innerhalb einer Stunde warf die deutsche Luftwaffe 67 Brandbomben ab. Insgesamt wurden im Bezirk des Tennisturniers während des Krieges tausende Häuser beschädigt, 1071 Menschen verletzt und 150 getötet. Der Centre Court des Geländes wurde als Erste-Hilfe-Station und Leichenhalle genutzt.
In der Nacht des 11. Oktober 1940 schlugen fünf 500-Pfund-Bomben auf dem Areal des All England Club ein. Eine durchschlug das Dach einer Tribüne auf dem Centre Court und zerstörte 1200 Sitzplätze. Die Reparaturarbeiten wurden erst 1947 abgeschlossen, doch schon im Juni 1945, einen Monat nach der Kapitulation von Nazi-Deutschland, fand der erste Wettbewerb auf dem historischen Grün statt. Es duellierten sich Spieler aus den englischen Streitkräften.
Somit konnte Liesl Herbst nach ihrem Debüt 1939 sieben Jahre lang nicht mehr auf dem Heiligen Rasen angreifen. Erst 1946 fand das größte Tennisturnier der Welt wieder regulär statt. Zusammen mit Tochter Dorli trat Liesl dabei im Doppel an - als erstes und einziges Mutter-Tochter-Duo in Wimbledon jemals. Ein weiterer Triumph für eine gebrochene Heldin.
Quelle: ntv.de