Vondrousova-Coup, brutaler Sport Jabeur versinkt im "schmerzhaftesten" Tal der Tränen
15.07.2023, 19:25 Uhr
Ons Jabeur verlor zum zweiten Mal in Folge das Endspiel in Wimbledon.
(Foto: REUTERS)
Schmerz, Tragik, Tränen: Ons Jabeurs großer Traum von Wimbledon zerschellt an den eigenen Dämonen im Kopf. Die brutale Seite des Tennissports kracht auf ihr zusammen. Siegerin Marketa Vondrousova kann ihren Triumph in einem irrsinnigen Finale immer noch nicht fassen.
Am Ende muss selbst das steinigste Herz schmelzen. Erst bedeckt sie zitternd ihr Gesicht, dann bricht Ons Jabeur in Tränen aus, als sie die Trophäe des Vizechampions von Wimbledon in Empfang nimmt. Zweite. Zum zweiten Mal in Folge beim größten Tennis-Turnier der Welt. Die Tunesierin kann gar nicht aufhören zu weinen, als sie ihre Rede hält - und als schließlich Siegerin Marketa Vondrousova geehrt. Ungläubige Freude und die Brutalität des Profisports wenige Meter entfernt voneinander.
Vondrousovas Erfolg ist nichts anderes als ein Tennis-Wunder. Die Nummer 42 der Weltrangliste ist die verdiente, aber auch die unwahrscheinlichste Siegerin in einem verrückten Finale, in dem sie Jabeur nach 1:20 Stunden mit 6:4, 6:4 schlägt. Lediglich einen einzigen Titel hatte sie zuvor auf der WTA-Tour gewonnen. Das war 2017. Nun schreibt die Tschechin Geschichte und triumphiert als erste ungesetzte Spielerin beim Rasenklassiker.
Nach vielen Verletzungen war Vondrousova zuletzt so weit abgerutscht, dass sie nicht mal einen Ausrüster hat. Das dürfte sich jetzt schnell ändern. Sie selbst hatte zugegeben, dass sie sich auf Sand oder Hardcourt ein Grand-Slam-Finale zugetraut hätte, aber ganz sicher nicht auf Rasen. Lediglich vier (!) Matches auf Rasen hatte sie vor diesem Turnier in ihrer gesamten Karriere gewonnen. Und die 24-Jährige gab bereits 2015 ihr Profidebüt. Bei ihren ersten drei Versuchen in Wimbledon verlor sie jeweils in der ersten Runde. Vor zwei Jahren, bei ihrem vierten Besuch, gewann sie zum ersten Mal - und schied prompt in der zweiten Runde aus.
Und so riet sie ihrem Ehemann, zu Hause zu bleiben für das Turnier in London, um auf die gemeinsame Katze aufzupassen. Nun organisierte er einen Katzensitter und flog in die englische Hauptstadt - und wird auf einmal in der Box von seiner fassungslosen Ehefrau umarmt. "Ich weiß nicht wirklich, was hier passiert", sagt die Tschechin bei ihrer Siegerehrung. "Tennis ist verrückt." Die Tschechin blickt immer noch völlig entgeistert drein, als sie von Tennis-Legende Billie Jean King in den Katakomben des Centre Court beglückwünscht wird.
Ons Jabeurs Tragik
Doch die Geschichte des Finals, die unter die Haut geht, ist die Tragik der Ons Jabeur. Seit ihrer Kindheit hegt die Tunesierin diesen großen Traum: einmal Wimbledon gewinnen. "Nicht nur für Tunesien, für ganz Afrika", wie sie immer wieder betont. Das hat noch keine Spielerin von ihrem Kontinent geschafft. Jetzt ist die 28-Jährige zum zweiten Mal in Serie Meter vor dem Ziel gescheitert. Und dramatischer hätte die Pleite nicht kommen können - Jabeur verliert nicht nur gegen Vondrousova, sondern vor allem gegen sich selbst und ihre Dämonen im Kopf.
Vor genau einem Jahr hatte die Weltranglistensechste ein besonderes Hintergrundbild auf ihrem Handy eingerichtet. Es war die Trophäe von Wimbledon. Nach dem verlorenen Finale gegen Elena Rybakina verschwand der digitale Pokal ganz schnell wieder. Diesmal sollte alles anders laufen und die tunesische Tennisspielerin verriet ihr Handydesign lieber nicht. Es half alles nichts. Am Ende flossen wieder Tränen statt Champagner.
Welch ein Endspiel war das? Was war das für ein Irrsinn? Während Vondrousova auf dem Heiligen Rasen mental und emotional ausgeglichen agiert (als Kind entschied sie sich gegen Fußball, weil sie den individuellen Charakter beim Tennis bevorzugt), zerbricht Jabeur innerlich. Der Druck im Eins-Gegen-Eins mit den Scheinwerfern eines gesamten Kontinents auf sich gerichtet, das ist anscheinend zu viel. Sie wird sich zukünftig fragen müssen, warum sie von all diesen negativen Gefühlen überwältigt wird, wenn sie auf die größte aller Bühnen kommt (auch das Finale der US Open 2022 verlor sie) und was sie dagegen tun kann.
Dabei beginnt alles für Jabeur durchaus vielversprechend. Sie startet mit einer guten Länge in den Schlägen und mit präzisen ersten Aufschlägen. Im ersten Aufschlagspiel Vondrousovas greift sie direkt an und erkämpft sich das Break. Kurz darauf ist allerdings das Re-Break perfekt. Dennoch, die längeren Ballwechsel gehen meist an Jabeur, die Vondrousova von links nach rechts und zurücktreibt und am Schluss vor allem mit ihrer Rückhand perfekt die Ecken findet. Und so gelingt der Tunesierin innerhalb von kürzester Zeit ein nächstes Break, sogar zu null - nur um direkt darauf genau auf dieselbe Art ihren eigenen Aufschlag abzugeben.
Jabeur im Gefecht mit inneren Dämonen
Das Ganze entwickelt sich zu einer Art absonderlichem Entertainment, zu einem verrückten Breakfestival. Niemand kann erahnen, in welche Richtung dieses Match ausschlägt. Nach 35 Minuten steht es 4:4 und bei der Hälfte der Spiele konnte der Aufschlag nicht gehalten werden. Vondrousova legt noch ein Break drauf und schlägt plötzlich, nachdem sie anfangs deutlich schwächer ausgesehen hatte, zum Satzgewinn auf. Zu null macht sie die halbe Miete in diesem Finale perfekt - 6:4, nachdem sie 2:4 zurücklag.
Jabeur ist zu diesem Zeitpunkt ein Schatten ihrer selbst. Im ersten Satz bringt sie nur 40 Prozent ihrer ersten Aufschläge an und gewinnt nur 44 Prozent der Punkte mit ihrem zweiten Aufschlag. Eine fatale Kombination. Die Last dieses Finals wiegt sichtbar schwer auf den Schultern der Tunesierin, die unbedingt "etwas Historisches" auf die Beine stellen wollte. Ihre Beine aber scheinen an diesem Nachmittag ein paar Kilogramm schwerer als normalerweise. Die Atmung fällt in der wegen starken Windes geschlossenen Arena, die sich laut BBC "so klebrig anfühlt wie das Gewächshaus Ihrer Oma", nicht leicht.
Auch zu Beginn des zweiten Satzes verliert Jabeur den mentalen Kampf. Gegen sich und gegen den Rest der Welt. Die Dämonen im Kopf, sie sind weit verbreitet im Tennissport. Hinter die Fassade der Profis herrschen oft Angst und Depressionen. Dort wird der Traum von Tennisstar schnell zum Kampf gegen die negativen Stimmen. Zum Albtraum der Einsamkeit auf dem Court, auf dem man sich vor nichts und niemandem verstecken kann.
Jegliches Selbstvertrauen ist weg. Jabeur ist im größten Moment ihres Lebens völlig allein. Und drumherum ist es mucksmäuschenstill. Die Größten des Sports können mit diesem Druck umgehen. Sie muss es noch lernen, was bei weitem keine Schande ist. Doch in diesem Endspiel findet sie nun keine Ecken mehr, sondern das Netz. Merklich demoralisiert kassiert sie ein Break zum 0:1 und starrt mit leerem Blick auf ihre Saiten. Mental am Boden schleicht sie über den Platz. "Ginge sie noch langsamer auf die andere Seite des Netzes, müsste sie rückwärtslaufen", heißt es bei der BBC.
Eine Siegerin und viele Tränen
Mit einigen starken Vorhänden meldet Jabeur sich danach aber auf einmal zurück. Der Tunesierin gelingt tatsächlich das Rebreak. Vondrousova kann es nicht glauben. Faszinierend, was der Kopf alles ausrichten kann. Das Momentum schwingt hier wie ein Pendel hin und her. Zack, sofort hat Jabeur das nächste Break zum 3:1. Stürmt sie jetzt zum Satzgewinn?
Welch eine absurde Frage in dieser sich ständig windenden Partie. Beim Hauch einer Chance auf den Satzgewinn melden sich sofort die Dämonen im Kopf. Und zwar so lautstark, dass sie ihren Aufschlag wieder mehrmals abgibt und Vondrousova nur stabil spielen muss, um letztendlich zum Turniergewinn aufzuschlagen. Mit ihrem zweiten Matchball macht die Tschechin ihren Traum wahr - und sinkt ungläubig zu Boden.
Jabeur schleicht kurz rüber zum Gratulieren - dann setzen bei ihr die Tränen ein. Wie ein Häufchen Elend hockt sie auf ihrer Bank. Der Kopf ist gesenkt, der Körper reglos. Heute war mehr drin, das weiß sie. Und das wird ihr am meisten weh tun. Den Kampf gegen Vondrousova hätte sie gewinnen können. Den gegen ihre Dämonen hat sie diesmal verloren.
"Ich werde dieses Turnier gewinnen"
"Das ist sehr, sehr hart", stammelt Jabeur am Mikrofon auf dem Rasen und bekommt als einer der Publikumslieblinge in London einen langen, warmen Applaus. "Dies ist die schmerzhafteste Niederlage meiner Karriere." Auch ihr Mann weint nun in der Box. "Aber ich werde nicht aufgeben, ich werde stärker zurückkommen", gibt sich die Tunesierin kämpferisch.
"Es war ein harter Weg" richtet sich Ons Jabeur am Ende noch einmal an die Zuschauerinnen und Zuschauer. "Aber ich verspreche euch, dass ich eines Tages zurückkommen und dieses Turnier gewinnen werde." Denn die 28-Jährige hat noch ein Ziel. Seit ihrer Kindheit. Für sich, für ihren Kontinent und für die gesamte arabische Welt. Dann ohne Herzschmerz. Dafür mit einem Sieg gegen ihre stärksten Gegner. Die Last der Erwartungen und die Dämonen im Kopf.
Quelle: ntv.de