Thoma über Ammanns Horrorcrash "Stürze hinterlassen etwas in deinem Kopf"
09.01.2015, 12:48 Uhr
Schock kurz nach der Landung: Simon Ammann bleibt bewusstlos im Schnee liegen. Nach seinem schweren Sturz in Bischofshofen wurde der Schweizer in ein Krankenhaus gebracht.
(Foto: imago/Eibner Europa)
Schwere Stürze, Skisprung-Olympiasieger Simon Ammann im Krankenhaus: Das letzte Springen der Vierschanzentournee liefert schreckliche Bilder, sie überschatten den Sieg des österreichischen Jungstars Stefan Kraft. Hat die Sportart ihre Grenze überschritten? Nein, findet der ehemalige Skispringer Dieter Thoma. Er nimmt auf der Jagd nach immer größeren Weiten die Sportler in die Pflicht.
n-tv.de: Beim vierten Springen der Vierschanzentournee in Bischofshofen gab es eine Reihe von spektakulären Stürzen beim Aufsprung. Das prominenteste Opfer ist Vierfach-Olympiasieger Simon Ammann. Er liegt ebenso im Krankenhaus wie der Amerikaner Nicholas Fairall. Wird Skispringen immer gefährlicher?

Der ehemalige Skispringer Dieter Thoma arbeitet als Experte für die ARD.
(Foto: picture alliance / dpa)
Dieter Thoma: Das Problem im Moment sind die Stürze bei der Landung. Im Flug ist unser Sport in den vergangenen Jahren deutlich stabiler geworden obwohl der Sprungstil dazu immer aggressiver wird. Grund für die Schwierigkeiten bei der Landung sind auch die fehlenden Schneesprünge vieler Athleten. Im Sommer wird auf Matten gesprungen. Da sind die Bedingungen immer perfekt. Im Winter hast du mal pappigen Schnee wie jetzt in Bischofshofen, Rillen oder Unebenheiten. Da verkantest du schnell mit dem derzeitigen Ski-Bindungssystem. In solchen Situationen fehlt einigen Sportlern die nötige Routine, das Training mit diesen Bindungen auf unterschiedlichen Schneeuntergründen zu landen, manchmal eben auch das skifahrerische Vermögen.
Dieter Thoma ist ein ehemaliger deutscher Skispringer. Bei Olympischen Spielen gewann er je einmal Gold, Silber und Bronze. Seine Karriere beendete er am Silvesterabend 1999 mit dem sogenannten "Jahrtausendsprung". Nach seiner aktiven Zeit arbeitet er als Experte fürs Fernsehen. Derzeit ist er bei der ARD an der Seite von Moderator Matthias Opdenhövel zu sehen.
Also waren die Stürze in Bischofshofen individuelles Versagen?
Das will ich so nicht sagen. Die Stürze waren eine Kombination aus mehreren Faktoren. Simon Ammann zum Beispiel wollte endlich mal in Österreich gewinnen. Er wusste, ich muss etwas riskieren, um hier meinen ersten Sieg einzufahren. Er ist sehr aggressiv gesprungen, hatte seinen Körperschwerpunkt bis zuletzt sehr weit vorne. Das ist immer riskant. Aber im Aufsprunghang lag auch ein pappig glatter Schnee mit Rillen. Das macht es schwierig, denn als Springer hast du das Gefühl, dass es nach der zügigen Anlaufgeschwindigkeit und der schnellen Luftfahrt beim Landen plötzlich stockt. Die meisten Topspringer hatten beim Aufsprung allerdings keine großen Probleme.
Trotzdem hat es den Anschein, dass sich in dieser Saison die Stürze bei der Landung häufen. Verschiedene Experten, unter anderem Rennleiter Walter Hofer, haben während und nach der Vierschanzentournee erklärt, es gebe Probleme mit dem "Setup". Was bedeutet das?
Das Bindungssystem hat das Flugsystem verändert und auch verbessert. Früher, als noch parallel gesprungen wurde, standen wir Springer gerade im Schuh und auf dem Ski und sind gerade gelandet. Da gab es symmetrisch weniger Probleme. Doch durch die Umstellung auf den V-Stil hat sich vieles verändert. Als Springer versuchst du nun, mehr Wind unter den Ski, also mehr Auftrieb zu bekommen. Um die Fläche zu vergrößern, gehen die Sportler beim V in eine Grätschstellung. Das bedeutet automatisch eine andere Stellung der Füße. Weil aber die Bindung gerade montiert sein muss, behelfen sich einige Springer, indem sie schräg in ihrem Schuh stehen und benutzen verschiedene Bindungssysteme, die zudem den Ski in der Luft weniger aufkanten lassen. Das bedeutet, du stehst bei der Landung nicht mehr gerade und musst das mit deinen Gelenken und viel Geschick ausgleichen. Da kann es dann natürlich leichter passieren, dass du verkantest.
Können Sie uns erklären, was für Kräfte auf den Springer bei der Landung wirken? Lässt sich das für einen Nicht-Skispringer simulieren?
Ich würde das lieber nicht simulieren. Aber es ist so: Landest du als Springer im normalen Weitenbereich ist der Druck nicht viel höher, als würdest du von einem Stuhl in 50 bis 70 Zentimeter Höhe springen, da dort der Auslauf noch sehr steil ist. Je weiter es geht und je flacher es wird, desto größer ist natürlich der Druck. Da wirkt dann schon mal das Vierfache des Körpergewichts auf den Springer. Das wäre dann ungefähr so, als würde man aus drei Metern Höhe springen und landen. Hinzu kommt die fortlaufende Geschwindigkeit in den Radius hinein bis es wieder gerade wird. Da zerren schon unglaubliche Kräfte an dir. Gucken wir uns mal die Sprünge von Michael Hayböck und Stefan Kraft in Innsbruck an. Die springen Schanzenrekord und landen im flachen Bereichen bei 137, 138 Metern. Das ist unglaublich, dass sie dort noch stehen können. Andere Springer dagegen bekommen schon bei weniger Metern Probleme sicher zu landen.
Also kann ich als Springer das Risiko eines Sturzes selbst kalkulieren?
Keiner sollte vorab an mögliche Stürze denken. Die Springer und Betreuer können viel für die Sicherheit durch eine gute Vorbereitung tun, dennoch passieren Stürze und keine Regel der Welt wird dies verhindern können. Jeder Springer versucht immer das Maximale aus sich und dem Material rauszuholen. Jeder Sportler möchte sich verbessern, auch mal gewinnen. Also tüftelst du an deinem System, springst vielleicht noch aggressiver am Schanzentisch weg. Es gibt viele Möglichkeiten etwas vor und im Flug zu verändern. Das gilt auch für die Landung. Du solltest wissen, wo du einen Sprung noch stehen kannst, dennoch überrascht man sich manchmal selbst und landet in Regionen, wo du niemals gedacht hättest, einen Sprung stehen zu können. Aber das ist eine Entscheidung, die intuitiv passiert und mit den positiven wie negativen Erfahrungen die jeweilige Reaktion beeinflusst. Aber egal was du als Springer tust, ein Restrisiko bleibt beim Skispringen immer. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.

Am Tag nach seinem schweren Sturz zeigte der Amerikaner Nicholas Fairall schon wieder Humor. "Haha, ich bin noch nicht tot!!", twitterte er.
(Foto: twitter.com/nick_fairall)
Was war das für eine Erfahrung?
Ich hatte vor einigen Jahren neben vielen anderen Stürzen auch einen schweren Sturz mit Folgen, zwei Tage nach meinem Weltcup-Sieg in Harrachov. Ich hatte eine schwere Gehirnerschütterung und meine Erinnerungen für die beiden Tage vor dem Sturz sind komplett weg. Bis heute. Ich kann mich an nichts erinnern.
Denkt man in solchen Momenten nicht manchmal: "Bin ich bescheuert? was mach ich hier eigentlich?"
Nein. Der Traum vom Fliegen und die Gefühle dabei sind einfach unbeschreiblich. Diese Motivation treibt dich immer wieder an. Es ist das Besondere im Leben eines Skispringers. Dafür trainierst du schon als kleiner Junge. Aber natürlich hinterlassen Stürze etwas in deinem Kopf. Zum Ende meiner Karriere kam als Resultat einiger negativer Erfahrungen auch die Angst. Bei perfekten Bedingungen war das gar kein Problem. Aber bei starkem Nebel und schwierigen Windverhältnissen hatte ich richtig Manschetten davor zu springen. Dann merkst du, das deine Zeit abgelaufen ist.
Nach Stürzen und riskanten Sprüngen bei schwierigen Windverhältnissen gibt es von Seiten der Springer, Trainer und Medien immer wieder Kritik an den Entscheidungen der Jury. Reizt die Jury die Grenzen des Sports zu sehr aus?
Das sehe ich anders. Die Jury muss wirklich extreme Leistungen bringen. Das sind sehr erfahrene Leute. Ich würde nicht mit ihnen tauschen wollen. Sie haben vor allem als oberste Priorität die Sicherheit der Springer im Blick, außerdem versuchen sie die Fairness zu gewährleisten.
Trotzdem wird das Spektakel immer weiter vorangetrieben. Beim Skifliegen am Kulm an diesem Wochenende locken die Organisatoren mit Flügen um die 250 Meter. Das wäre neuer Weltrekord. Ist die Entwicklung im Skispringen unaufhaltsam?
Die Entwicklung war bis jetzt nicht aufzuhalten. Dennoch gibt es von der FIS genaue Vorschriften wie groß eine Schanze gebaut werden darf, um für den Weltcup oder eine Skiflugweltmeisterschaft das nötige Zertifikat zu bekommen. Mit den Flugschanzen Vikersund, Bad Mitterndorf und Planica ist man nun an dieser maximale Grenze angekommen. Aber ich kann nicht sagen, wohin die Entwicklung noch gehen wird, falls diese Vorschriften irgendwann mal gelockert werden. Vor 30 Jahren gab es noch Diskussionen ob Weiten von 200 Metern überhaupt realistisch sind. Nun sind wir schon bei 246,5 Metern, die gesprungen und gestanden wurden.
Was erwarten Sie für die Zukunft?
Ich glaube, dass die Entwicklung zukünftig viel langsamer vorangehen wird. Nach der Umstellung auf den V-Stil und der Einführung des neuen Stab-Bindungssystems gab es große Schübe und Veränderungen. Diese Zeiten sind vorbei. Ob irgendwann Flüge auf 300 Meter möglich sind? Man müsste größere Schanzen bauen, denn auf den jetzigen ist es nicht möglich. Wir werden sehen. Ich bin mir aber sicher, dass der Kreis der Athleten, der sich diese Flüge zutraut und beherrschen kann, dann immer kleiner wird.
Mit Dieter Thoma sprach Tobias Nordmann
Quelle: ntv.de