Ekstase, Bayern-Stars, Söder Tom Brady verzückt München bei verrücktem NFL-Volksfest
16.11.2022, 12:58 Uhr (aktualisiert)
Glücklich, wer es in die Allianz-Arena schaffte: Für das NFL-Debüt in Deutschland hätten drei Millionen Tickets verkauft werden können.
(Foto: IMAGO/USA TODAY Network)
Der Boom ist real: Die NFL macht die Massen beim ersten Germany Game völlig wild. Es entsteht ein ekstatisches Volksfest, dem weder Thomas Müller noch Markus Söder entfliehen können und auf das weitere folgen sollen. Sportlich wird es sogar noch dramatisch.
Als zum Abpfiff auch noch "Sweet Caroline" (Oh oh oooh) eingespielt wird, ist bei diesem verrückten NFL-Spiel mit Spektakel-Charakter niemand mehr zu halten. Die gesamte Allianz-Arena in München, alle 75.000 Fans, grölen mit. Die erste reguläre Partie der US-Profiliga auf deutschem Boden überhaupt mutiert am Sonntagnachmittag zu einem Volksfest - das viele Emotionen freisetzt und sehr viel mehr als die 60 Minuten American Football bedeutet. Dabei fahren die Tampa Bay Buccaneers ganz nebenbei einen enorm wichtigen 21:16-Sieg gegen die Seattle Seahawks ein, der ihre Saison und das Erbe von Superstar Tom Brady retten könnte.
Doch zum Anfang. Die Münchner Innenstadt ist fest in der Hand der Football-Fans. Besser gesagt: die Brauhäuser, und zwar das ganze Wochenende über schon. Bereits Tage vor dem ersten Germany Game beherrschen bunte Trikots und Bommelmützen das Straßenbild der bayerischen Landeshauptstadt. Der Adler der Seahawks schwebt dabei am häufigsten über den Marienplatz, aber auch die Piratenflagge der Buccaneers flattert auf vielen Oberkörpern und Köpfen.
Die NFL in Deutschland - das schien vor einigen Jahren noch unmöglich. Denn dies ist zwar das erste Saisonspiel hierzulande, aber bei Weitem nicht der erste Versuch der US-Liga, sich auf dem deutschen Markt zu etablieren. Aber vorherige Bemühungen, wie etwa die NFL Europe, scheiterten eher kläglich und wurden eingestellt. Massenboom? Fehlanzeige!
Doch jetzt rasten Zehntausende aus, wenn Brady den Ball wirft oder DeKaylin Zecharius (kurz D.K.) Metcalf für die Seahawks das Ei fängt. Schon um 10 Uhr morgens drängen sich die Massen auf der Tailgating-Party vor der Spielstätte, Trikots von beinahe allen 32 Ligateams und verschiedenste Sprachen und Akzente sind zu sehen und zu hören. Ob die Verbundenheit der Football-Bubble zum größten US-Sport nach dem Ende der NFL Europe geblieben ist, ob die jede Spielszene aufarbeitenden sozialen Medien diesmal der Grund für den Hype sind, oder ob sich mit der regulären Übertragung im TV die Anhängerschaft in den vergangenen Jahre vervielfältigt hat?
Söder macht im Stadion Selfies
Egal! Der Boom ist real. Der Boom ist da. So sehr, dass in Deutschland weder Handball noch Basketball und auch keine der Wintersportarten die zweitbeliebteste Sportart nach Fußball ist, sondern American Football. So sehr, dass für die Partie in München mehr als drei Millionen Tickets hätten verkauft werden können. Dass Bayerns Ministerpräsident Markus Söder den Münzwurf vor der Partie an der Mittellinie begleitet, am Spielfeldrand mit Eric Maxim Choupo-Moting abklatscht und sich ein Selfie mit dem Bayern-Stürmer abholt. Dessen Münchner Kollegen Leroy Sané, Thomas Müller, Serge Gabry und Kingsley Coman sind natürlich auch da. Ein paar Minuten danach tritt Cro als Vor-Act auf.
Alle wollen einen Teil von der NFL, denn die Liga ist das größte Sport-Entertainment auf der Welt - und zeigt das gerne mit viel Pomp und Glitzer. Alles ist größer, lauter, bunter. Noch härter wummernde Bässe außerhalb und innerhalb der Arena, noch riesigere Lautsprecher, noch größere Kameras auf Kran-Mobilen am Spielfeldrand, Hunderte Offizielle und mehr oder weniger wichtige Leute hinter den Kulissen, riesige Gatorade-Tonnen samt überdimensionalen Eissäcken, ein Heer von Stewards, Medienmenschen und Cheerleadern. Das ganze Drumherum dieser einen Partie lässt Bundesliga- oder Champions-League-Spiele des FC Bayern wie Landesliga-Partien auf einem Acker fünf Kilometer außerhalb von Ingolstadt erscheinen. Da passt es, dass der Preis für einen halben Liter Bier von 5,50 Euro bei einem Bayern-Spiel auf 6,70 Euro angehoben wurde.
Und die NFL will natürlich einen Teil von Deutschland, schließlich ist der Markt groß und verhältnismäßig flüssig. Die Liga verzeichnet hierzulande ein zweistelliges Wachstum in Sachen Fangemeinde und soziale Reichweite. NFL-Boss Roger Goodell, der sich in der Arena vor dem Spiel mit Bayern-Chef Oliver Kahn unterhielt, bestätigte am Samstag, dass er sich mehr als die vier geplanten Germany Games in den nächsten vier Jahren vorstellen könne. Und so wählte die Liga einen echten Leckerbissen als erste deutsche Partie.
Buccaneers starten miserabel
Auf der einen Seite der erfolgreichste Quarterback aller Zeiten, Tom Brady, der mit 45 Jahren vielleicht seine letzte NFL-Saison spielt. Auf der anderen die Seahawks, die sich in der Bundesrepublik einer riesigen Anhängerschaft erfreuen, vor der Saison fast für tot erklärt wurden, nachdem sie ihren Eckpfeiler Russell Wilson abgegeben hatten, dann aber dank Quarterback Geno Smith' Karriereaufschwung den ersten Platz in der NFC West eroberten. Brady kündigte in seinem Podcast deshalb im Vorfeld an, das Germany Game werde "eines der epischsten Spiele, die wir je erlebt haben". Die Liga selbst sprach von einem "historic Event".
Nun, ganz so historisch wird das Spiel am Ende nicht. Dafür ein Volksfest-Spektakel, das die vielen Fans singend und jauchzend zurücklässt. Dabei legen Brady und seine Buccaneers zunächst so katastrophal los wie schon die ganze Saison über: Miserables Laufspiel, fallen gelassene Bälle, ein verschossenes Field Goal. Brady dreht entnervt ab, keine Punkte im ersten Viertel. Der Superstar war mit seinem Team vor der Saison als ein Kandidat für den Einzug in den Super Bowl gehandelt worden und will unter keinen Umständen seine grandiose Karriere mit einer Saison der Peinlichkeiten beschmutzen.
Und so zeigt der Quarterback kurz darauf, wie es geht, wie er in München sein Erbe verteidigt. Denn dann ist er da, der erste NFL-Touchdown in Deutschland. Und wer hätte ihn werfen sollen, wenn nicht der von vielen als GOAT, als bester Quarterback aller Zeiten, bezeichnete Brady. Für Kitsch hatte die NFL schon immer genauso etwas übrig wie für Opulenz. Sogar eine La-Ola-Welle schwappt durchs Publikum, bei dem der komplette Unterrang das gesamte Spiel steht, singt und tanzt (das gibt es bei den Spielen des FC Bayern nicht).
Der 32-Yard-Touchdownpass von Brady zu Julio Jones stellt auf 7:0 für die Bucs, weil auch der Extrapunkt sitzt. Es weht ein Hauch des alten, beziehungsweise jungen, Tom Brady durchs Rund. Immer wieder führt er, der in dieser Saison viel Kritik einstecken musste, seine Truppe mit all seiner Ruhe, Erfahrung und Klasse über das gesamte Feld. Sogar das Laufspiel funktioniert nun hervorragend. Mit zwölf Spielzügen bringt der Spielmacher seine Bucs bis an die 1-Yard-Linie, dann übergibt er im nächsten Versuch den Ball an Leonard Fournette, der zum zweiten Touchdown des Spiels läuft.
14:0 für Tampa Bay. Brady schleudert hochemotional seine geballte Faust in den Münchner Himmel, seine Anhänger feiern ihn ekstatisch. "Das war eine der großartigsten Football-Erfahrungen, die ich je gemacht habe. Dafür, dass ich seit 23 Jahren in der Liga bin, sagt das eine Menge aus. Die Fans waren unglaublich", erzählt der Quarterback nach dem Spiel und gibt zu, er sei durch die Atmosphäre von Beginn an "elektrisiert" gewesen.
Smith erlöst die Seahawks-Fans
Der Superstar kann sich aber auch bei seiner Defensive für eine meisterhafte Performance bedanken, in der ersten Hälfte lässt sie nur 57 Yards zu und forciert fünf Punts. Bradys Gegenüber Smith kommt noch so gar nicht ins Rollen, aber das soll sich nach der Halbzeit ändern. Denn die Kabinenansprache von Seattles Trainerlegende Pete Caroll scheint es in sich gehabt zu haben: In wenigen Spielzügen führt Smith sein Team bis an die gegnerische 25-Yardlinie. Es springt zwar nur ein Field Goal heraus, doch alle wissen: Nun geht es rund. Direkt schallen "Seahawks"-Rufe durchs Stadion.
Nach zwei groben Patzern jeweils kurz vor der gegnerischen Endzone - Tampa leistet sich eine Interception und Seattle einen Fumble - können zunächst wieder die Buccaneers punkten. Und sogar mit einem sogenannten Big Play, einem 29-Yards-Lauf von Running Back Rachaad White. Brady schickt direkt eine weitere Rakete hinterher, als wolle er in Deutschland allen beweisen, dass die Zeit ihn noch lange nicht eingeholt hat. Dann wirft der 45-Jährige seinen zweiten Touchdownpass des Spiels, zu Beginn des vierten Viertels führen die Bucs dominant mit 21:3.
Im letzten Abschnitt erlöst Smith aber endlich die vielen Seahawks-Fans im Stadion mit dem ersten Touchdown und macht das Spiel noch mal spannend. Weil Brady eine Interception wirft, erkämpft sich Seattle an der Mittelinie sofort wieder das Ei. Die Seahawks gehen ins Risiko und spielen einen vierten Versuch aus, der mit einem First Down belohnt wird - und Sekunden darauf mit dem nächsten Touchdown. Smith' tiefer Pass über 19 Yards wird von Marquise Goodwin grandios per Hechtrolle zum 16:21 samt Extrapunkt gefangen. Das Stadion bebt, der Lautstärke-Pegel nach einem Bayern-Tor kann da nicht mithalten.
Buhrufe für den FCB
Doch White mit zwei starken Läufen und Brady mit einem 17-Yards-Pass machen der frisch aufgekeimten Seahawks-Ekstase jäh ein Ende und nehmen so viel Zeit von der Uhr, dass die Bucs den wichtigen Sieg eintüten und mit nun 5:5 Erfolgen/Pleiten ihre Führung in der NFC South, die die Teilnahme an den Playoffs sicherstellt, ausbauen. Für ein kurzes Intermezzo halten nur noch die Bayern-Stars her. Als Bundesliga-Highlights des Rekordmeisters eingespielt werden, buhen Teile des Publikums lautstark. Sekunden danach sind Sané und Müller auf dem Bildschirm zu sehen, wie sie auf den Rängen sitzen und laut über die Buh-Rufe lachen.
Schließlich sorgt "Country Roads" - das ganze Stadion singt den mittlerweile zum Oktoberfest-Hit umgestalteten Song mit - für einen kitschigen Party-Abschluss samt Handylichtern im Abendhimmel. "Am Ende des Spiels, als sie 'Sweet Caroline' und 'Country Roads' sangen, war das ziemlich episch", findet Brady. "Oh wie ist das schön", stimmen die Zuschauer von selbst an.
Dann ist nicht nur das Spiel - wohl Bradys erstes und letztes auf deutschem Boden - sondern auch die Football-Ekstase, das NFL-Volksfest, zu Ende. Die Geschichte der NFL in Deutschland mit Sicherheit aber noch lange nicht.
(Dieser Artikel wurde am Montag, 14. November 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de