"Wunder"-Spiel gegen England "Superman" Granit Xhaka macht die Schweiz fassungslos

Die Schweiz ist stolz auf ihre Nationalmannschaft. Das unglückliche EM-Aus gegen abermals enttäuschend spielende Engländer kann bitterer kaum sein. Der Fehlschuss von Akanji ist tragisch, aber es gibt einen großen Gewinner.

Manuel Akanji fühlte sich, als habe er alle im Stich gelassen: seine Mitspieler, die Fans im Stadion, eine ganze Nation. Als einziger Spieler hatte der Schweizer Abwehrboss im Elfmeterschießen gegen England (3:5) vergeben. Sein schwacher Schuss in die Arme von Jordan Pickford machte an diesem Samstagabend den Unterschied. Die Eidgenossen waren erneut im Viertelfinale gescheitert, wie schon drei Jahre zuvor, bei der letzten Fußball-EM.

"Das tut weh", sagte der 28-Jährige, der zuvor den englischen Starstürmer komplett abgemeldet hatte. In den eigenen Reihen erhielt der Fehlschütze nur positive Reaktionen. "Manu Akanji habe ich nur gratuliert - zu seiner fantastischen EM, wie souverän er gespielt hat, wie locker er war, jederzeit ohne Stress am Ball", befand Trainer Murat Yakin. "Der Fußball gibt uns so viel, aber solche Minuten gehören auch dazu."

England - Schweiz 1:1 (1:1/0:0) n.V., 5:3 i.E.

Tore: 0:1 Embolo (75.), 1:1 Saka (80.)
Elfmeterschießen: 1:0 Palmer, Pickford hält gegen Akanji, 2:0 Bellingham, 2:1 Schär, 3:1 Saka, 3:2 Shaqiri, 4:2 Toney, 4:3 Amdouni, 5:3 Alexander-Arnold
England: Pickford - Walker, Stones, Konsa (79. Palmer), Trippier (78. Eze) - Mainoo (78. Shaw), Rice - Saka, Bellingham, Foden (115. Alexander-Arnold) - Kane (110. Toney); Trainer: Southgate
Schweiz: Sommer - Schär, Akanji, Rodríguez - Rieder (64. Zuber), Freuler (118. Sierro), Xhaka, Aebischer (118. Amdouni) - Ndoye (98. Zakaria), Embolo (109. Shaqiri), Vargas (64. Widmer); Trainer: Yakin
Schiedsrichter: Daniele Orsato (Italien)
Gelbe Karten: Kane - Schär, Widmer (3)
Zuschauer: 47.000 (ausverkauft) in Düsseldorf

Geschlagen schlichen sie vor die beeindruckende "Rote Wand", die während des ultimativen Showdowns in ihrem Rücken gestanden hatte. Dort, wo sonst die Fans von Fortuna Düsseldorf stehen und feiern, hatte sich der Schweizer Block aufgebaut. Mit mächtigen Kuhglocken und reichlich Stimmgewalt. Immer wieder sangen sie gegen England an. Und träumten lange von der Sensation. Die wäre es gewesen, natürlich. Auch wenn die Schweizer zuvor ein herausragendes Turnier gespielt hatten, anders als die Energiesparmeister von der Insel.

Granit Xhaka, der Anführer der Mannschaft, wollte hernach die Verhältnisse aber unbedingt richtig verstanden und die Niederlage im höchsten Regal des internationalen Fußballs einsortiert wissen. Ihm ging es tüchtig auf den Keks, dass der Gegner vor der Partie in der Öffentlichkeit so schlechtgeredet worden war. England sei eine herausragende Mannschaft mit herausragenden Spielern, die bei Top-Top-Vereinen unter Vertrag stünden. Das stimmt. Aber die gezeigten Leistungen gaben das nicht her. Dennoch wird die Pleite so natürlich wertvoller.

"Es ist brutal hart"

Die Schweiz hatte abermals in der Weltklasse vorgefühlt. Und musste abermals anerkennen, dass es für den letzten Schritt in den elitären Kreis (noch) nicht reicht. Auch wenn man bitterer nicht scheitern kann. Über die gesamte Spielzeit betrachtet, waren die Schweizer das gefährlichere Team gewesen. Nach 75 Minuten lag die Mannschaft dank Breel Embolo vorne. Die Fans ließen die Kuhglocken läuten und schrien sich für das Wunder die Seele aus dem Leib. Aber zu schnell folgte die Ernüchterung: England glich fünf Minuten später aus.

Geschockt waren die Schweizer aber nicht. Sie wankten nicht in die Verlängerung, sie wollten den Sieg. Ließen jeweils kurz vor Ende der regulären Spielzeit und der Verlängerung dicke Chancen ungenutzt. Auf den Tribünen konnte es ein Schweizer Fan gar nicht fassen. Er hatte sich im Dickicht der englischen Fans den Oberkörper frei gemacht, lächelte vor sich hin und blies immer wieder seine Irokesen-Krone auf. Er ertrug mit großem Gleichmut die Sticheleien um sich herum und litt wie ein Hund, als Embolo einem Mitspieler eine Topchance nahm, als der Joker Xherdan Shaqiri eine Ecke als Lattenkreuz hämmerte und als Akanji den Elfmeter verschoss.

"Es ist brutal hart", gestand Xhaka später in den Katakomben. Es sei "ganz schwer, die richtigen Worte zu finden. So eine Niederlage tut doppelt weh". Ob das Ausscheiden gegen wieder einmal spielerisch erbärmlich schwache Engländer ungerecht sei, wurde der Star von Bayer Leverkusen gefragt. Nein. "So ist Fußball, es geht nur darum, wer am Ende gewinnt." Und dafür setzte sich der 31-Jährige einem großen Risiko aus. "Jetzt können wir ehrlich reden", sagte er. Ein MRT Anfang der Woche hatte ihm einen Muskelfaserriss in den Adduktoren diagnostiziert.

"Das ist doch ... nicht normal"

Eigentlich ein Grund, den Sport mal Sport sein zu lassen. Aber Xhaka wollte sein Team nicht hängen lassen. "Ich hatte das Gefühl, die Mannschaft braucht mich." Er fühlte sich fit, auch wenn er nicht richtig schießen konnte und auch lange Seitenverlagerungen kaum möglich waren, wie er später gestand. Das war dann auch der Grund, warum der Mann ohne Nerven beim Elfmeterschießen nicht mitmachte. Aber sonst war ihm wirklich nichts anzumerken. Wie bei Bayer Leverkusen war er der Chef auf dem Feld. Wie gegen Deutschland, als er Toni Kroos aus dem Spiel genommen hatte, meldete er nun Jude Bellingham weitgehend ab, den England-Weltstar. Er schonte sich nicht, seinen Körper. Und auch nicht den Gegner. Xhaka, das ist robuste Eleganz.

120 Minuten hielt er durch. Er wunderte sich selbst, wie das möglich war. Und auch in den Schweizer Medien verneigten sie sich vor dem Kapitän. "Eine Verletzung, die normalerweise eine wochenlange Pause nach sich zieht. Und der spielt dann einfach mal ein EM-Viertelfinale. Das ist doch ... nicht normal", staunte der "Blick" und verlieh dem Bayer-Star den Heldenstatus: Superman! Und damit nicht genug. Er sei auch noch "Seelenklempner" für die Mitspieler und damit "Obertröster der Nation" geworden. Dem Unglücksschützen rief er zu: "Er ist nicht der erste und nicht der letzte, der einen Penalty verschießt", sagte Xhaka: "Chapeau an den Jungen! Und Kopf hoch." Auch Trainer Murat Yakin konnte kaum fassen, was Xhaka getan hatte: "Für mich ein Wunder, dass er auf dem Platz stand und über die volle Länge gespielt hat."

"Brauchen uns vor großen Teams nicht verstecken"

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Der zweite große Gewinner an diesem Abend aber war Yakin selbst. Noch vor einigen Monaten war der ehemalige Profi des VfB Stuttgart schwer in der Kritik. In der EM-Qualifikation rumpelte es kräftig. Trainer und Anführer trafen sich, sprachen sich aus und fanden einen Weg - einen erfolgreichen. Yakin wurde zum gefeierten Mann, zum taktischen Genie hinter dieser EM, die so dramatisch wie nur möglich endete. Sein Vertrag läuft aus, es soll zeitnah Gespräche geben. "Wir wünschen uns klar, dass er Trainer bleibt. Er ist genau der richtige Mann für diese Mannschaft, er hat uns in jedem Spiel richtig aufgestellt", sagte Xhaka und blickte voraus. Für die WM 2026 in Kanada, den USA und Mexiko machte er große Ansagen. Da will er nachholen, was nun verwehrt blieb.

Der Zusammenhalt im Team und die gute Leistung bei der EM haben für Begeisterung in der Heimat gesorgt und den Schweizer Fußball auf ein höheres Level befördert. Am Sonntagabend, nach der Rückkehr in die Heimat, gibt es noch einen Empfang. Ein Dank an die Fans. "Wir brauchen uns vor den großen Teams nicht mehr verstecken", lobte Yakin weiter. "Wir wurden im Vorfeld als Favorit betitelt. Wir werden nie gegen große Mannschaften der Favorit sein. Wir haben tolle Fußballer, junge Spieler, die heranwachsen, Erfahrene, die die Jungen mitziehen. Wir haben uns etwas aufgebaut, wie wir als Kollektiv funktionieren. Es war von A bis Z eine tolle Kampagne."

Quelle: ntv.de

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