Übler Stich ins Herz, aber ... Im Moment des größten Schmerzes siegt die DFB-Elf trotzdem
05.07.2024, 21:19 UhrEin bravouröser Kampf wird nicht belohnt: Die deutsche Nationalmannschaft erleidet gegen Spanien einen schmerzhaften Stich ins Herz. Aber: Die DFB-Elf hat eine Euphorie entfacht, macht wieder Spaß. Einmal durchatmen, dann sieht die Zukunft trotz EM-Aus nicht schlecht aus.
Adios, DFB-Team. Die Mannschaft von Julian Nagelsmann scheidet bei der Heim-EM im Viertelfinale dramatisch aus, weil der Spanien-Fluch in der 119. Minute zuschlägt. Eine aufopferungsvoll kämpfende DFB-Elf kommt in der regulären Spielzeit bravourös zurück mit einem Tor von Florian Wirtz in der 89. Minute - um dann so bitter wie möglich doch noch auszuscheiden. Aber dennoch: Auch im Moment des größten Frusts macht dieses Team Spaß, sorgt für lange nicht dagewesene Euphorie. Und ist damit trotz des Ausscheidens ein Gewinner, denn auf diese Leistung, auf diesen Kampf, auf diese Fußball-Gier kann man aufbauen.
Seit 36 Jahren, seit der EM 1988, die auch damals in Deutschland stattfand, hat keine DFB-Elf gegen "La Furia Roja" bei einem großen Turnier gewinnen können. Nach dem 1:1 in der Vorrunde bei der WM in Katar und den schmerzhaften 0:1-Pleiten bei der EM 2008 im Finale und bei der WM 2010 im Halbfinale setzt es nun den K.o. im Viertelfinale. Die 1:2 (1:1)-Pleite nach Verlängerung tut weh. Aber vergleichbar mit den bitteren Abgängen in Katar, bei der EM 2021 und bei der WM 2018 sind Leistung und Ergebnis diesmal nicht. All das kann nach dieser EM abgehakt werden. Das, was seit den März-Länderspielen zusammengewachsen ist, macht tatsächlich wieder Spaß. Nagelsmann sagte, die Mannschaft müsse mal ihre eigene Festplatte löschen. Niemand denkt heute mehr an die bleiernen Jahre, die das DFB-Team hinter sich hat.
Tore: 1:0 Olmo (51.), 1:1 Wirtz (89.), 2:1 Merino (119.)
Spanien: Simón - Carvajal, Le Normand (46. Nacho), Laporte, Cucurella - Rodri - Pedri (8. Olmo), Fabián Ruiz Peña (102. Josélu) - Yamal (63. Torres), Williams (80. Merino) - Morata (80. Oyarzabal); Trainer: de la Fuente
Deutschland: Neuer - Kimmich, Rüdiger, Tah (80. Müller), Raum (57. Mittelstädt) - Can (46. Andrich), Kroos - Sané (46. Wirtz), Gündoğan (57. Füllkrug), Musiala - Havertz (91. Anton); Trainer: Nagelsmann
Schiedsrichter: Anthony Taylor (England)
Gelbe Karten: Le Normand, Torres, Simón, Rodri, Fabián Ruiz Peña - Rüdiger (2), Raum, Andrich (2), Kroos, Mittelstädt (2), Schlotterbeck, Wirtz, Undav
Gelb-Rote Karte: Carvajal (Spanien) wegen Foulspiels (120.+6)
Zuschauer: 51.000 (ausverkauft) in Stuttgart
Über Spanien kann man stolpern, die Seleccion ist die beste Mannschaft des Turniers und wahrscheinlich Europameister, wenn sie nicht zu viel falsch macht. Und dennoch kämpfte sich Deutschland gegen die Iberer grandios zurück, hatte sie kurz vor Schluss der regulären Spielzeit und in der Verlängerung gar am Rand einer Niederlage. Deshalb muss sich die DFB-Elf auch nach dem EM-Aus nicht verstecken. Sie kann mit den besten der Welt wieder mithalten.
Kann Nagelsmann DFB-Elf ohne Kroos?
Gegen Schottland gelang der DFB-Elf ein grandioser Start, ein Last-Minute-Kopfball von Niclas Füllkrug im letzten Gruppenspiel gegen die Schweiz sorgte für großen Jubel, den Gruppensieg - und den wohl schwierigeren Weg in Richtung Finale. Im Achtelfinale gab es eine fulminante Anfangsphase, eine Gewitter-Regen-Show der Extraklasse und einen verdienten Sieg dank VAR und Jamal Musiala. Zwar haben Julian Nagelsmann und seine Männer ein echtes Sommermärchen 2.0 genauso wie den Titel verpasst, aber in die Enttäuschung mischt sich Vorfreude auf eine neue Nationalelf.
Denn die Katastrophe, schon wieder ein Vorrundendebakel, hat die DFB-Elf mit Bravour verhindert. Es hätte alles viel schlimmer kommen können. Und sie hat sogar ihre wichtigste Aufgabe erfüllt: Die deutsche Mannschaft hat bisher im Turnier begeistert, hat Euphorie im Land entfacht. Auf den Fanpartys tanzten Tausende auf den Straßen, oft mittendrin: Saxofonist Andre Schnura, der zu einem nicht sportlichen Helden der EM wurde. Auch wenn etwa türkische oder schottische Anhängerinnen und Anhänger noch inbrünstiger anfeuern, in den Stadien peitschten die deutschen Fans ihr Team lauter nach vorn, als man es seit Jahren gehört hat. In Stuttgart war es gegen Spanien so laut wie seit 2014 nicht mehr bei einem DFB-Spiel, die Fans klatschten ihren Helden nach dem Abpfiff minutenlang Applaus. Diesen Erfolg hat sich die Mannschaft gebührend erkämpft.
Ein Versprechen für die Zukunft ist gewachsen. Nagelsmann hat sich selbst in seiner Rolle als Bundestrainer gefunden - und bleibt auch bis zur Weltmeisterschaft 2026 in den USA, Kanada und Mexiko. Mit ihm gehören auch die aufregenden Namen weiter zum Team: die beiden kleinen Magier Jamal Musiala und Florian Wirtz. Es werden noch weitere hinzukommen: der junge Brajan Gruda, der schon im Trainingslager dabei war oder Bayern-Shootingstar Aleksandar Pavlović, der für einen 20-Jährigen bereits ein beeindruckendes Passspiel und eine enorme Ruhe am Ball besitzt.
Doch nicht alles wird gleich bleiben. Das Aus im EM-Viertelfinale schickte Toni Kroos in Rente. Er war die alles überstrahlende Figur des DFB-Teams, hatte bis dato mehr Ballkontakte als jeder andere Spieler im Turnier, alles war von ihm abhängig. Der 34-Jährige strahlte eine Ruhe aus, die das DFB-Team so bitter nötig hatte. Es ist die Frage, die sich nach diesem Turnier stellen wird: Kann Bundestrainer Nagelsmann auch eine erfolgreiche Nationalelf ohne Toni Kroos bauen? Momentan überwiegt der Frust, aber schon bald wird der Rückblick auf den Moment des größten Schmerzes auch ein positiver sein.
Quelle: ntv.de