Umstrittener Stratege hört auf Kroos findet eine letzte gute Lösung
02.07.2021, 17:03 Uhr
Der Ball, sein Freund.
(Foto: Pool via REUTERS)
Toni Kroos hat der deutschen Fußball-Nationalmannschaft großartige Moment geschenkt. Der Spielmacher war Teil des Teams, das die Welt zwischen den Jahren 2010 und 2014 beeindruckt hat. Aber wie das Team verlor auch Kroos immer mehr an Kraft und Faszination.
Ist es ein Sieg? Ein Triumph? Oder einfach das perfekte Timing, das Toni Kroos über die Jahre ausgezeichnet hat? Für jede These wird man sehr gute Argumente finden. Auch für die These, dass die Entscheidung, sich nach 106 Spielen für Deutschland aus der Nationalmannschaft zurückziehen überfällig war. Nun, die Wahl der These sagt viel darüber aus, ob man eher #TeamKroos ist oder Team #Kroosout. Für alle, die nicht wissen was bedeutet: Mit Hashtags (#) bekennt man heutzutage Meinungsfarbe. Und auch wenn uns keine aktuelle Umfrage vorliegt: Die Leute, die den Rücktritt des 31-Jährigen gut finden, sind ganz sicher in der Überzahl.
Tatsächlich hatte man zuletzt das Gefühl, dass die Lobbygruppe für Kroos nur noch ein Ein-Mann-Betrieb ist. In Personalunion aller Ämter hatte der Bundestrainer Joachim Löw beim Bundestrainer Joachim Löw intensiv für den Spielmacher geworben. Was tatsächlich etwas sperrig klingt, lässt sich auch mit einem Wort zusammenfassen: eiserne Nibelungentreue. Diese war Löw in seiner 15-jährigen Chefzeit beim DFB regelmäßig vorgeworfen worden. Zum erlesenen Kreis der Nibelungen gehörten etwa Bastian Schweinsteiger oder auch Mesut Özil. Tatsächlich ignorierte Löw immer wieder das Leistungsprinzip und holte seine Lieblinge zu großen Turnieren ins Aufgebot und in verantwortliche Positionen. Zur Wahrheit gehört aber auch: meistens lieferten sie mindestens solide Arbeitsnachweise und rechtfertigten ihre Rolle.
Das gilt auch für Kroos. Kein deutscher Nationalspieler war nach dem WM-Debakel in Russland 2018 so häufig Gegenstand von öffentlichen Debatten. Während Löw bei der Personalie Kroos nie mit sich reden ließ, redete sich ein ganzes Land den Mund fusselig. Die Bewunderer seines herausragenden Passspiels bewunderten sein herausragendes Passspiel. Sie ließen die Gegner-Argumente, dass dem 31-Jährigen Führungsstärke, Lautstärke, Härte, Leidenschaft und (mittlerweile) auch das perfekte Timing für die Bedürfnisse der Mannschaft fehlen unkommentiert an sich vorbeisausen. Kroos, das war der Stratege, der Lenker, das kühle Herz des DFB-Teams.
Das war sein Legendenspiel
Und nie war er besser als am 8. Juli 2014. Nie war er besser als damals, als Deutschland in bizarrer Weise WM-Gastgeber Brasilien mit 7:1 im Halbfinale gedemütigt hatte. Demütigung, das ist ein großes Wort. Aber wohl selten war es treffender. Und Kroos war der Dirigent, der die spektakulärste Samba anleitete, die je im Estádio Governador Magalhães Pinto getanzt wurde. Ecke vor dem 1:0, einleitender Pass vor dem 2:0, das dritte und vierte Tor erzielte er selbst. Kroos packte ihn dieses Spiel alles hinein, was er kann. Standards, Pässe, Schüsse - was für ein Spiel. Ein Spiel für die Ewigkeit. Noch mehr als das Finale ein paar Tage später, in dem Kroos übrigens nicht zur Entfaltung kam. Mit der an die Grenze zur Brutalität neigenden Härte der Argentinier kam er nicht zurecht. Die ertrug derweil sein Nebenmann Bastian Schweinsteiger. Die Schlacht von Rio hat ihn zur Legende gemacht.
Viele Menschen sagten damals, es wäre ein guter Zeitpunkt für einen Rücktritt gewesen. Aber Schweinsteiger machte weiter. Zwei Jahre später, im Sommer 2016 schleppte er sich angeschlagenen zur EM. Löw vertraute seinem Gladiator. Es endete bitter. Es endete mit der "Hand des Grauens" im Halbfinale gegen Frankreich. Mit dem ausgestreckten Arm war er im Strafraum schneller am Ball als sein Gegner Patrice Evra, Elfmeter in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit. Der Moment, der die 0:2-Niederlage einleitete. Über Schweinsteiger, der sich nach dem Turnier aus der Nationalmannschaft zurückzog, sagte man: Sein Rücktritt käme zwei Jahre zu spät.
Über Kroos sagt man diese Dinge auch. Was dabei übersehen wird: Einen perfekten Moment hätte es für ihn nicht gegeben. Schweinsteiger hätte 2014 abtreten können, wie es Philipp Lahm getan hatte. Ein WM-Triumph, das ist ein guter Grund. Ein WM-Debakel das Gegenteil. Wer also behauptet, dass der richtige Zeitpunkt für den DFB-Abgang im Sommer 2018 gewesen wäre, der unterschätzt den Ehrgeiz eines Sportlers. Eines Sportlers, wie Kroos einer ist. Eines Sportlers, der nationale Meisterschaften und internationale Henkelpötte in Serie gewonnen hat, der die großen Trainer Zinedine Zidane, Jupp Heynckes und Löw immer hinter sich wusste. Und Kroos hatte ja auch mit seinem genialen Freistoßtor in der Nachspielzeit des zweiten Gruppenspiels der DFB-Auswahl gegen Schweden, ja, dem ganzen damals noch nicht so nachhaltig von "seiner" Nationalmannschaft entfremdeten Land eine neue Hoffnung geschenkt. Kroos wollte es nochmal wissen. Und Löw nötigte ihn ja auch nicht aus seinem Aufgebot. Anders als Mats Hummels, als Thomas Müller und Jérôme Boateng. Löw machte Kroos zum Schlüsselspieler für den Umbruch.
Dass Löw mit dem Ansinnen gescheitert ist, es liegt nicht an Kroos. Kroos hat gespielt, wie er es immer getan hat. Er hat den Ball angezogen und ihn verteilt. Der Datendienstleister Opta hat seit der WM 2010 2047 Pässe bei großen Turnieren gespielt, deutlich mehr als alle anderen großen Strategen des Weltfußballs. Er hat sein Spiel nie geändert, das hat er vor der EM noch einmal betont. Kroos war Kroos. Aber die Mannschaft um ihn herum nicht mehr dieselbe, die die Welt zwischen 2010 und 2014 mit ihrem Fußball beeindruckt hatte. Kroos wuchs nach der WM 2010 langsam zum Herzstück. Er hatte mit Sami Khedira den perfekten Adjutanten an seiner Seite. Wichtig fürs Löcher stopfen, weniger wichtig für das Passspiel. Er hatte mit Mesut Özil einen genialen Zehner vor sich. Auch das vergisst man manchmal. Und vorne war Miroslav Klose. Ein Stürmer. Ein Stürmer! Einer, den man mit Bällen füttern konnte.
Kroos verlor seine Kraft im System
Das alles hatte Kroos am Ende längst nicht mehr. Seine großartigen Momente wurden seltener, anders als sein Einfluss auf das Spiel. Das aber sollte eigentlich anders funktionieren. Es sollte mehr auf Tempo und Tiefe aus sein. So hatte es sich der Bundestrainer nach Russland gewünscht. Aber Kroos war nicht der Mann dafür. Nicht in diesem Umfeld. Ein Umfeld, das nie stabil war. Eine Mannschaft, der Löw nie klarmachen konnte, was genau sie eigentlich tun sollte. Das zog sich bis zur EM durch. Löw ging es um Rollen, nicht um Systeme. Aber mit seinem präferierten 3-4-3 fremdelte die Mannschaft meistens, außer beim spektakulären 4:2 gegen Portugal in der Vorrunde. Es wurde auch zunehmend zum Problem, dass die brillanten Standards von Kroos, die 2014 noch den Weg zum Titel geebnet hatten, zur völlig stumpfen Waffe wurden.
Kroos und İlkay Gündoğan im Zentrum, das ging nicht auf. Kroos spielte solide, überraschte mit Ballgewinnen und Härte, Gündoğan blieb deutlich hinter den Erwartungen. So wurde auch mehr über ihn als über Kroos diskutiert. Das Zusammenspiel des Duos wirkte auf das deutsche Spiel eher hemmend denn befruchtend. Zu risikoarm, zu wenig kreativ. Das Turnier lieferte sehr viele Argumente für ein neues Zentrum. Ein Zentrum mit dem galligen Joshua Kimmich und dem Kraftmonster Leon Goretzka. Wie beeindruckend diese Kombination funktioniert, hat sie beim FC Bayern bewiesen. Unter Trainer Hansi Flick.
Und Hansi Flick, der hat den FC Bayern verlassen, um nun das Erbe von Löw anzutreten. Er übernimmt eine Mannschaft mit vielen Baustellen. Mit einer orientierungslosen Defensive, mit einer harmlosen Offensive. Um es mal radikal zu verkürzen. Er übernimmt ein verunsichertes Team. So wie im Herbst 2019 in München. In einem beeindruckenden Tempo hat er den Rekordmeister hart stabilisiert. Zu einem alles fressenden Pressing-Monster geformt. Es war seine Idee des erfolgreichen, des spektakulären Fußballs. Und warum sollte er davon abrücken? Auf einen Großteil seiner erfolgreichen Bayern-Achse kann er auch im DFB-Team setzen. Allein das Mittelfeld kann er komplett adaptieren. Kimmich (statt auf der Position des Rechtsverteidigers) und Goretzka auf der Doppel-Sechs, Müller davor, Leroy Sané und Serge Gnabry daneben. Einzig ein Stürmer von allerhöchster Qualität fehlt.
Nicht das Problem von Kroos. Er wäre sicher weiter nominiert worden. Er gehört immer noch zu Besten, die für Deutschland spielen dürften. Ob er aber immer noch der Beste (oder Zweitbeste) auf seiner Position ist, diese Frage wäre hoch spannend geworden. Vermutlich wäre sie zu Ungunsten von Kroos beantwortet worden. Aber wer weiß das schon? Kroos tritt nun ab. Als Sieger über seine Kritiker. Er tritt ab, mit dem kleinen persönlichen Triumph, bis zum Ende seiner DFB-Karriere Stammspieler gewesen zu sein. Er hat einen letzten, perfekten Pass gespielt. Ob er überfällig war? Das soll jeder für sich selbst entscheiden.
Quelle: ntv.de