Lienen bocklos, Rudi Carrell grüßt Löw spielt mit Italien Verstecken
01.07.2016, 21:03 Uhr
Während Ewald Lienen mit dem Fußballbetrieb abrechnet, schaut die DFB-Elf nur auf Italien. Der Bundestrainer wehrt alle Spionageversuche ab. Mesut Özil will der Welt zeigen, dass seine Kollegen und er auch anders können.
Was sagt der Bundestrainer?
Wenn die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im Viertelfinale der Europameisterschaft gegen Italien spielt - was gibt es nach noch zu sagen? Schließlich dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben, dass die DFB-Elf diesen Gegner bei einem Turnier noch nie bezwungen hat. Interessant zu erfahren wäre da vielleicht, mit welcher Startelf Joachim Löw am Samstag in Bordeaux (ab 21 Uhr im Liveticker bei n-tv.de) sein Glück versuchen will. Doch dazu sagte der Bundestrainer wie stets nichts. Mit einem Hinweis auf seinen Kollegen Antonio Conte, der unmittelbar vor ihm nicht verraten hatte, ob sein Mittelfeldstar Daniele De Rossi vom AS Rom nach seiner Oberschenkelverletzung wieder spielen kann, sagte er: "Geheimniskrämerei? Klar, macht jeder Trainer irgendwie." Klingt so, als hätten sich beide Chefs zum deutsch-italienischen Versteckspiel verabredet.
Grundsätzlich sei es so: "Im Grunde genommen weiß die Mannschaft, was auf sie zukommt und was von ihr erwartet wird." Und es sei es auch nicht entscheidend, sagte Löw auf dem Podium im Stadion Matmut Atlantique, ob er sein Team wieder mit einer Dreierkette ausstattet, die im Verteidigungsfall zu einer Fünferkette wird. Beim 4:1 im Testspiel in München Ende März hatte das prima funktioniert. Aber ein Testspiel bleibt ein Testspiel bleibt ein Testspiel. "Die Italiener lassen sich davon nicht beeindrucken." Er und sein Team seien jedenfalls bereit: "Jeder weiß, das nächste Spiel kann das letzte sein." Was nicht jeder weiß: Spielt Mario Gomez wieder im Angriff? Oder rückt Vornamensvetter Götze wieder in die Startelf? Hat sich Julian Draxler nach seiner Gala gegen die Slowakei auf dem linken Flügel festgespielt? Verteidigt Joshua Kimmich erneut auf der rechten Seite? Und schießt Thomas Müller endlich ein Tor? Die letzte Frage könnte allerdings nicht einmal der Bundestrainer beantworten - selbst, wenn er wollte.
Wie ist der Krankenstand?
Alle 23 Spieler zeigten sich an diesem Vormittag beim Abschlusstraining in Évian froh und munter, also auch der Kölner Jonas Hector, den in diesen Tagen eine Erkältung plagte. Bei 30 Grad am Genfer See stellte sich Lukas Podolski zu Beginn der Übungseinheit ins Tor, gab aber auf, nachdem der Kollege Thomas Müller ihm gezeigt hatte, dass er auch auf dieser Position keine Chance auf einen Platz in Startelf hat. Wie stets durften die Journalisten nur ein Viertelstündchen zuschauen, der Rest war streng geheim - Spionage zwecklos. Was sich Löw mit seinen Helfern Thomas Schneider und Marcus Sorg überlegt hat, sehen wir, wenn das Spiel beginnt. "Lasst euch überraschen", hatte Stratege Toni Kroos verkündet. Und damit wohl eher unfreiwillig Rudi Carrell zitiert: "Lass dich überraschen, schnell kann es geschehen, dass auch deine Wünsche in Erfüllung gehen. Lass dich überraschen, gleich das ist ganz klar, werden Wunder Wirklichkeit, werden Träume wahr." Eigentlich ein schönes Motto für ein Fußballspiel gegen Italien.
Wer ist der Mitarbeiter des Tages?
Mesut Özil kämpft nicht nur bei diesem Turnier um die Anerkennung, die ihm seiner Meinung nach und laut der Meinung seines Trainers gebührt. Özil und Löw - das ist eine enge Verbindung. Seit der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika stand der Spielmacher bei vier Turnieren in jedem Spiel stets in der Startelf - insgesamt 23 Mal. Und immerhin ist die deutsche Mannschaft mit ihm vor zwei Jahren in Brasilien Weltmeister geworden. Und doch muss er sich oft rechtfertigen, vielleicht, weil alle von ihm Wunderdinge am laufenden Band erwarten - und schon sind wir wieder beim großen Carrell. Wie dem auch sei: Die Wette, dass Özil auch an diesem Samstag wieder zu denen gehört, die beginnen, ist nicht allzu gewagt - obwohl der Bundestrainer selbst das nicht verraten hat. Derweil gibt sich sein Lieblingsspieler kämpferisch - was nicht ganz zu seinem bis oben zugeknöpften, weißen Poloshirt mit DFB-Emblem passte: "Wir wissen sowieso, was für Stärken wir in der Mannschaft haben." Und dass ein Sieg gegen Italien der erste in der Geschichte großer Turnier wäre, interessiert ihn nicht: "Als Spieler bist du da professionell genug. Wir wollen beweisen, dass es auch anders geht."
War sonst noch was?
Ewald Lienen hätte keinen Bock bei der EM zu spielen. Hat der Trainer FC St. Pauli gesagt. Und dass er das beim Trainingsauftakt seines Klubs sagte, klingt plausibel - auch wenn er als Profi zwar 333 Mal in der Bundesliga, 171 Mal in der zweiten Liga, aber niemals für die Nationalelf gespielt hat. Er sorgt sich um das Niveau seines Sports und die Gesundheit der Protagonisten. "Ich glaube, in der ersten Woche haben wir uns alle wahnsinnig gelangweilt. Ich bin da auch schon mal weggenickt." Das sei kein Vorwurf. "Ich sage das seit Jahren, dass unser Fußballbetrieb völlig aufgebauscht ist und aufgebauscht wird." Die Topspieler seien schlichtweg überlastet. Bastian Schweinsteiger zum Beispiel: "Wie alt ist der - 31? Der hat gefühlt die Karriere eines 37-Jährigen, weil er jedes zweite Jahr WM oder EM spielt. Diese Leute können sich fast nie wieder regenerieren und erholen." Lienens Fazit: "Ich glaube, dass wir unser Produkt seit Jahren immer mehr verwässern, weil es eben nicht geht, dass du 60, 70 Spiele auf hohem Niveau spielen kannst." Kein Mensch kümmere sich auch um die psychische Belastung der Spieler: "Du siehst deine Familie ganz wenig. Du bist nur am Reisen durch die Welt, du bist im Hotel, du bist im Trainingslager, und dann läufst du auf den Platz und musst dann aber Riesenspaß und Freude haben. Und das das ganze Jahr über. Und dann Jahr für Jahr, und dann auch noch ohne Urlaub." Kurzum: "Ich halte das für schwachsinnig, aber ich habe auch nichts anderes erwartet bei den Leuten, die an der Spitze der internationalen Organisation stehen, so wie die sich ansonsten im Leben verhalten haben. Da braucht man auch nicht die Hoffnung haben, dass sie in der Lage sind, den Fußball so zu organisieren, wie es sinnvoll wäre." Guter Mann!
Quelle: ntv.de