Ratlose Engländer staunen nur Schotten dicht, Schotten mutig
19.06.2021, 08:04 UhrSchottland erlebte beim Remis gegen England einen großen Abend - und will im abschließenden Gruppenspiel Geschichte schreiben. Seinen Ruf als einer der Favoriten der Europameisterschaft kann England nicht rechtfertigen. Besonders Tottenham-Star Harry Kane bleibt erneut blass.
Am Ende des Abends klang noch einmal die schottische Hymne durch das Wembley-Stadion, das wunderbare "Flower of Scotland", doch diesmal gab es keine Pfiffe von den englischen Fans, keine Buhrufe. Es waren nämlich keine mehr da. Die Engländer hatten den Ort des Geschehens schnell verlassen nach dem ernüchternden 0:0 in der 115. Ausgabe des ältesten Duells im Weltfußball gegen den Nachbarn aus dem Norden.
Die heilige Stätte des englischen Fußballs gehörte ganz alleine den rund 3000 schottischen Fans. Sie feierten ihre Mannschaft, die dem Favoriten einen Punkt abgerungen und sich damit die Chance auf den Einzug ins EM-Achtelfinale erhalten hatte, und sie feierten auch sich selbst - dafür, dass sie während der 90 Minuten mindestens genauso laut gewesen waren wie das Heimpublikum, trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit.
Für ein Land wie Schottland, zum ersten Mal seit 23 Jahren überhaupt wieder bei einem Turnier dabei, geht es nicht nur ums Gewinnen, manchmal fühlt sich auch ein Unentschieden wie ein Sieg an. Das trifft auf das 0:0 von Wembley aus schottischer Perspektive zu, daran konnte kein Zweifel bestehen, wenn man die Schotten nach dem Spiel singen hörte, und wenn man sah, wie sie hinterher glückselig mit der Tube zurück in die Londoner Innenstadt fuhren. Glückselig und, ja, ziemlich betrunken.
Schottland mauerte nicht nur
Das Spiel wird eingehen in die Reihe schottischer Heldengeschichten gegen England. Es wird einen ähnlichen Rang in der Fußball-Folklore des Landes einnehmen wie das 3:2 in Wembley 1967 gegen den amtierenden Weltmeister oder das 2:1 zehn Jahre später an gleicher Stelle, bei dem angeblich 75.000 schottische Fans anwesend waren, nach dem Spiel den Platz stürmten und Rasenfetzen und Torpfosten erbeuteten.
Trainer Steve Clarke versuchte die Ruhe zu bewahren nach dem torlosen Remis, das sich wie ein Sieg anfühlte. "Ich bin stolz auf meine Spieler und ich freue mich für sie", sagte er. Seiner Meinung nach hatte die Mannschaft ein bisschen zu viel Kritik abbekommen nach der 0:2-Niederlage zum EM-Start gegen Tschechien durch die beiden Tore von Patrik Schick, das zweite bekanntlich von der Mittellinie.
Was ihn am meisten bei der Partie im Wembley-Stadion gefreut hätte, sagte Clarke, war die Tatsache, dass seine Mannschaft "richtig gut gespielt" hätte. Natürlich, das sogenannte "Battle of Britain" war geprägt von Kampf und Leidenschaft, vor allem auf schottischer Seite. Doch das Team mauerte sich nicht nur ein, sondern setzte auch spielerisch Akzente. Hervorzuheben ist hier der 20 Jahre junge Billy Gilmour. Der Mittelfeldspieler von Thomas Tuchels FC Chelsea hat erst zu Beginn des Monats in der Nationalelf debütiert, kam gegen England zu seinem ersten Startelf-Einsatz und war die herausragende Erscheinung mit seiner Präsenz und seiner Ballsicherheit. Einige Beobachter erinnerte er an den Franzosen N'Golo Kanté.
"Hatten die Chancen, zu gewinnen"
Ein Punkt ist der gerechte Lohn für die Leistung der Schotten, doch es wäre sogar mehr möglich gewesen, wie Kapitän Andrew Robertson vom FC Liverpool hinterher beklagte: "Ich habe ein bisschen das Gefühl von Frustration. Wir hatten die Chancen, um zu gewinnen." Und das war nicht einmal übertrieben - und wäre natürlich der größte anzunehmende Unfall aus englischer Sicht gewesen, die ultimative Demütigung.
Doch auch das 0:0 genügt, um den Engländern die Stimmung zu verderben. Die Mannschaft gehört zu den EM-Favoriten und träumt von einem Sieg bei dem Turnier, das ein Heim-Turnier werden könnte mit bis zu sechs Spielen im Wembley-Stadion. Nach dem guten Start mit dem 1:0 gegen Vizeweltmeister Kroatien hatte die englische Öffentlichkeit einen Sieg gegen den Nachbarn fest einkalkuliert. Entsprechend groß war der Frust. Nach dem Abpfiff buhten die Fans ihre Mannschaft aus.
Vor allem die hochgelobte Offensive enttäuschte. Englands beste Chance war das Ergebnis einer Standardsituation. Verteidiger John Stones köpfte schon früh nach einer Ecke an den Pfosten. Raheem Sterling, gegen Kroatien noch der Siegtorschütze, war schwach, Phil Foden zeigte, dass er noch schwer zu tragen hat an der Last eines großen Turniers, Marcus Rashford und Jack Grealish wurden spät eingewechselt, Jadon Sancho von Borussia Dortmund saß nur auf der Bank.
Kane enttäuschte, Southgate beschwichtigte
Beziehungsweise: immerhin. Beim Auftakt gegen Kroatien hatte er nicht einmal im Kader gestanden. Am meisten sorgt sich die englische Fußball-Nation aber um Harry Kane, den Kapitän und etatmäßigen Torjäger, der die Mannschaft doch eigentlich zum Titel schießen soll. Im zweiten Spiel nacheinander blieb er unauffällig. Wie er nach einer halben Stunde nach einem missglückten Flugkopfball auf den nassen Rasen klatschte, war das perfekte Symbolbild für seine bisherige Darbietung bei dem Turnier. "Frustriert und abgestumpft - Harry Kane machte einen verzweifelten Eindruck", schrieb die Times. In der 74. Minute wurde er ausgewechselt.
Trainer Gareth Southgate wollte keine Untergangsstimmung verbreiten, trotz des ernüchternden Resultats und vieler offener Fragen. "Wenn man nicht gewinnt, ist es wichtig, nicht zu verlieren", sagte er. Mit vier Punkten aus zwei Spielen steht England praktisch als Achtelfinalist fest, doch warum die Mannschaft zu den Favoriten des Turniers gehört, konnte sie noch nicht nachweisen. Die nächste Gelegenheit dazu gibt es am Dienstag im abschließenden Gruppenspiel gegen Tschechien.
Schottland spielt zur gleichen Zeit gegen Kroatien darum, zum ersten Mal überhaupt die Gruppenphase bei einer WM oder EM zu überstehen. "Der Punkt gegen England in Wembley ohne Gegentor kann ein Schritt in Richtung Geschichte sein", sagte Kapitän Robertson. Dafür müssen die Kroaten geschlagen werden, im Hampden-Park in Glasgow, vor eigenem Publikum. Sollte das gelingen, kann man sich schonmal freuen - darauf nämlich, wie Schottlands Fans am Ende das wunderbare "Flower of Scotland" singen.
Quelle: ntv.de