Tor-Phobie gefährdet EM-Erfolg Spanien löst "Alarm in Rot" aus

Das Vertrauen hat sich bezahlt gemacht: Angreifer Morata und Trainer Enrique.

Das Vertrauen hat sich bezahlt gemacht: Angreifer Morata und Trainer Enrique.

(Foto: imago images/Agencia EFE)

Wenn die spanische Fußball-Nationalmannschaft zu einem Turnier fährt, gehört sie in den letzten Jahren immer zum Favoritenkreis. Auch bei dieser EM ist das so. Doch mit den bisherigen Ergebnissen können sie das nicht untermauern.

Am Ende war es Millimeterarbeit. Nicht von Álvaro Morata. Die starke Vorlage von Gerard Moreno aus knapp sechs Metern ins Tor zu schieben, war nicht mehr allzu schwer. Aber die Videoassistenten im schweizerischen Nyon mussten ganz genau hingucken. Das Gespann in Sevilla hatte schon auf Abseits entschieden. Wenige Sekunden später wurden sie überstimmt: Tor.

Das 1:0 gegen Polen (25.) war Spaniens erstes Tor bei dieser EM. Und Morata wusste genau, wem er den unverhofften Treffer und den anschließenden Jubel widmen sollte. Er rannte auf direktem Weg zu seinem Trainer Luis Enrique. Schließlich hatte er einige Chancen gegen Schweden vergeben, die den Turniereinstieg deutlich sanfter hätten gestalten können. Der Stürmer wurde mitverantwortlich für Spaniens Torflaute gemacht.

Deshalb pfiffen Morata die heimischen Fans nach dem harmlosen Passfestival gegen Schweden aus, die Presse übte Kritik. Gefordert wurde der spanische Torjäger der heimischen Liga, Moreno vom FC Villarreal. Doch Trainer Luiz Enrique hielt an Morata fest: "Morgen spielen wir mit Morata und zehn weiteren Spielern", sagte er dem spanischen Sender "Tele5" vor der zweiten Gruppenpartie.

Nicht einmal vom Elfmeterpunkt gefährlich

Am Ende wurde Enrique für seine Sturheit zumindest teilweise belohnt. Weil er Morata das Toreschießen doch nicht alleine anvertrauen wollte, stellte er ihm den gewünschten Moreno zur Seite. Den erwarteten Treffer gab's, die erhofften drei Punkte gegen Polen gab's nicht. Auch, weil Moreno einen schmeichelhaft zugesprochenen Elfer an den Pfosten und Morata den Nachschuss neben das Tor setzte. Eine missglückte Co-Produktion beider spanischer Angreifer.

Die Polen dagegen konnten mit einem wuchtigen Kopfballtor von Weltfußballer Robert Lewandowski den frühen EM-K.o. zunächst abwenden. Für sie kommt es jetzt genauso wie für Spanien nach dem 1:1 auf das letzte Gruppenspiel an. Die Spanier, immerhin Europameister von 2008 und 2012 und Weltmeister von 2010, hatten sich deutlich mehr als zwei Punkte aus zwei Spielen erhofft. Schon nach dem Schweden-Spiel schraubte Enrique die Erwartungshaltung (leicht) runter: "Wir wollen die Gruppe immer noch gewinnen, wenn das nicht klappt, wollen wir zu den vier besten Drittplatzierten gehören."

Woran das liegt? Es könnte das sein, was der frühere Bayern-Profi Thiago als Problem in einem Interview der "Süddeutschen Zeitung" angesprochen hat. Der Nationalspieler hasse den modernen Fußball, weil ihm in den vergangenen Jahren die "Magie" verloren gegangen sei. Dabei hat er selbstverständlich nicht von Spanien, sondern von der Covid-Pause und dem VAR gesprochen. Aber möglicherweise ist auch Spanien die Magie abhandengekommen. Gegen die kämpferischen Polen tat sich der dreifache Europameister sichtlich schwer. Diese erdrückende Dominanz, die sie um 2010 herum auszeichnete, sie ist zwar noch da, kann aber nicht mehr in Zählbares umgemünzt werden. Gegen Schweden hatten sie in der ersten Hälfte fast 80 Prozent Ballbesitz, das Team um Emil Forsberg kam aus der eigenen Hälfte fast gar nicht heraus.

Ohne Ramos und ohne Busquets

Alleine in jener ersten Gruppenpartie spielten die Spanier über 90 Minuten 852 erfolgreiche Pässe, ein unglaublicher Wert. Auch gegen Polen dominierten sie. Fast 70 Prozent Ballbesitz, 661 erfolgreiche Pässe: Das sind alles typisch spanische Statistiken. Was aber fehlt, sind die Leute, die für einen magischen Moment sorgen könnten. Der Moment, der nicht vorhersehbar ist. Der Moment, der tief stehende Abwehrreihen knacken könnte. Thiago wäre sicher einer, der das liefern könnte. Doch bisher kommt er auf nur magere dreißig Minuten Einsatzzeit, obwohl er im Saisonfinale bei Liverpool wieder fit war und regelmäßig gespielt hat.

Dazu kommt auch, dass Spanien zum ersten Mal ohne richtigen Kapitän ins Turnier gegangen ist. Der Leitwolf, der die Nationalmannschaft lange angeführt hat, Sergio Ramos, verlässt nach 16 Jahren nicht nur Real Madrid, sondern ist nach einer Saison mit langer Verletzungspause auch bei der Nationalelf nicht dabei. Sergio Busquets, der etatmäßige Kapitän des Teams, greift nach seiner Coronainfektion wohl erst in einer möglichen K.o.-Runde ins Geschehen ein.

Und so spielt Spanien seinen Ballbesitzfußball sauber und ordentlich runter, ohne dabei vor dem gegnerischen Tor wirklich gefährlich zu sein oder in der Abwehr richtig sicher zu stehen. Geschweige denn aufregend zu sein. Der französische Spanier Aymeric Laporte, der Ramos ersetzen soll, sah beim Ausgleich von Lewandowski nicht gut aus. Auch die Schweden hätten fast die Sensation geschafft, als Marcus Berg aus zwei Metern frei stehend vor dem Tor vergab.

Es bleibt also eines der Rätsel der bisherigen Europameisterschaft. Wie gut ist Spanien wirklich? Gehören sie noch zum Favoritenkreis? Sicher ist, dass die Zeiten von einer der besten Mittelfeldbesetzungen zumindest der letzten Jahre vorbei ist. Pedri von Barça, Rodri von Man City und Koke von Atlético Madrid können nicht das kreieren, was Andrés Iniesta, Xabi Alsonso und Xavi geschafft haben. Es gibt auch keinen David Villa oder Fernando Torres im Kader. Dass sie es eigentlich könnten, zeigten die Spanier im gleichen Stadion mit einer fast identischen Aufstellung, als sie die DFB-Elf im vergangenen November mit 6:0 abschossen.

Nach dem Schweden-Spiel war die spanische Presse noch wohlwollend, nach dem Polen-Remis schon gleich weniger. "El Mundo Deportivo" sieht nur noch wenig Positives: "Die Probleme sind immer noch die gleichen, nur ein Sieg gegen die Slowakei kann La Roja noch helfen." Die AS beschreit schon den "Alarm in Rot". Es gehe im letzten Gruppenspiel gegen die Slowakei um "das nackte Überleben".

Und wie sieht das die Mannschaft? "Bisher war es eigentlich gar nicht so schlecht", erklärte Spaniens Ersatz-Kapitän Jordi Alba nach dem Remis gegen Polen. Dann ist ja alles gesagt.

Quelle: ntv.de

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