Ballermann, Bierbecher, Mbappé VAR-Aufreger und "schijtbakkenvoetbal" schocken Oranje

Aufregung: Referee Anthony Taylor nahm ein Tor der Niederlande gegen Frankreich zurück.

Aufregung: Referee Anthony Taylor nahm ein Tor der Niederlande gegen Frankreich zurück.

(Foto: IMAGO/Sportsphoto)

Die Oranje-Fans reißen in Leipzig die nächste riesige EM-Party ab, selbst Gewitter und Wolkenbrüche können sie nicht stoppen. Der VAR schon. Weil der Schiedsrichter ein Tor der Niederländer zurücknimmt, sind Trainer und Mannschaft erbost. Bei Frankreich verzweifelt ein Topstar.

Pfandsammler hätten ihre Freude. Nahe der Eckfahne vor dem orangefarbenen Block prasseln die Bierbecher nieder. Quasi Schlaraffenland. Drei Euro ist jeder wert. Das Problem: Die Becher werden mit wüsten Beschimpfungen und lauten Pfiffen auf den Rasen gepfeffert - und aufsammeln will sie zudem niemand.

Es spielen sich verrückte Minuten ab beim ersten 0:0 dieser Fußball-EM in Leipzig zwischen Topfavorit Frankreich und Fast-Topfavorit Niederlande. In einer akuten Druckphase von Les Bleus trifft aus dem Nichts Xavi Simons zur Oranje-Führung. Die tausenden Elftal-Fans flippen aus, werfen in diesem Moment ihre Bierbecher noch freudetrunken aufs Spielfeld. Umarmen sich, singen. Kylian Mbappé, Frankreichs Torjäger, der wegen einer gebrochenen Nase nicht mitspielen kann und der später noch eine Rolle spielen soll, wird auf der Videoleinwand eingeblendet. Holländische Häme fliegt ihm entgegen.

Doch dann sprengt ein abrupter Pfiff von Schiedsrichter Anthony Taylor die Party-Stimmung: Der VAR checkt den Treffer, weil sich Denzel Dumfries im Abseits befand und dem Torhüter der Équipe Tricolore, Mike Maignan, im Weg gestanden haben soll.

Dumfries findet VAR-Entscheidung "sehr fragwürdig"

Bange Sekunden, die zu Minuten werden. Die Oranje-Fans werden immer ungehaltener, weil der "Goal Check" eine halbe Ewigkeit dauert. Irgendwann schallen die Buhrufe und Pfiffe lautstark gen Referee. Doch der Engländer bleibt cool, hört auf die Kommunikation aus dem Knopf in seinem Ohr - und nimmt den Treffer zurück. Nun gibt es für die Männer und Frauen in Orange kein Halten mehr. Sie wittern Torklau. Betrug. Etwas ganz Faules. Erst steigt der Schock in die Gesichter, dann fliegen die Becher. Auf der anderen Seite des Feldes jubeln die vielen Franzosen im Rund.

Tatsächlich kann man die Entscheidung von Taylor und seinem Team so treffen. Streitbar ist sie dennoch. Vor allem die minutenlange Überprüfung verwundert. Besonders ob der Tatsache, dass der Unparteiische sich anschließend die Szene nicht einmal selbst anschaut. Oranje-Trainer Ronald Koeman kritisiert nach der Partie auf der Pressekonferenz: ,"Ja, es ist schwierig, dieses nicht anerkannte Tor. Ich glaube nicht, dass Denzel (Dumfries; d. Red) den Torhüter behindert hat. Der Torwart ist einfach zu spät dran, um auf den Schuss zu reagieren." Der Bondscoach glaubt nicht, "dass es umsonst fünf Minuten gedauert hat" bis zur Schiedsrichterentscheidung. Die lange Zeit sei ein Zeichen dafür, dass Taylor und sein Team "es auch nicht wussten".

Liverpool-Verteidiger Virgil van Dijk sieht es am Mikrofon ähnlich: "Meiner Meinung nach war das Tor von Xavi Simons, das nicht anerkannt wurde, ein gültiges Tor." Der vermeintlich Schuldige Dumfries findet die VAR-Entscheidung gar "sehr fragwürdig".

Auch in England, dem Heimatland des Referees, wird der VAR-Einsatz zum Aufreger. Der "Guardian" nennt das Vorgehen von Schiedsrichtern aus der Premier League "peinlich". Bei der BBC meinen die Stürmer-Ikonen Alan Shearer und Wayne Rooney und auch der große Gary Lineker, dass das Tor hätte zählen müssen. Shearer erklärt, dass Keeper Maignan aufgrund seiner Körperhaltung keine Möglichkeit hatte, nach dem Schuss von Simons zu springen.

Oranje-Fans verwandeln Leipzig in Ballermann-Party

Der Oranje-Party nützt das alles nichts. Sie ist in Einzelteile zerlegt. Dabei herrscht zuvor den gesamten Tag über beste Ballermann-Stimmung in Leipzig. Oder besser: Kings-Day-Stimmung. Denn die tausenden Verrückten in Orange, die beim ersten Spiel schon Hamburg in eine einzige Party verwandelt hatten, zeigen wieder, was sie am besten können.

Die Feierbiester. Sie lassen sich nicht von Gewitter und Wolkenbrüchen unterkriegen. Spielen in Pfützen pitschnass Fußball. Besingen sie sich, ihr Team und ihre freudige Invasion zu lauter Musik und orangefarbenem Pyro. Hüpfen zu Snollebollekes' EM-Hit "Links rechts" so vehement von links nach rechts, dass die Häuser der sächsischen Großstadt zu wackeln scheinen. Ist das jetzt Ballermann oder Après-Ski? Wen kümmert's, die Holländer sagen - und passender geht es wohl nicht - "carnavalskraker" dazu. Selbst die Fußball-Legenden Marco van Basten, Ruud Gullit und Johan Cruyff tanzen auf den Straßen Leipzigs als Papp-Büsten mit.

Viele Holländer bestätigen das Klischee und sind mit Wohnmobil nach Sachsen gereist und kleiden die Campingplätze der Region im Elftal-Look. Aber auch ein französischer Fanmarsch zieht zum Stadion. 25.000 Fußballverrückte statt der zunächst prognostizierten 80.000 sollen laut Stadtverwaltung den Weg nach Leipzig angetreten haben.

Allerdings ist nicht nur die VAR-Entscheidung ein Grund für den Party-Crash der Niederländer. Auch das Spiel ihrer Mannschaft ist dem der Franzosen größtenteils unterlegen. "Ich glaube nicht, dass wir im Ballbesitz gut gespielt haben", sagt etwa Trainer Koeman und bemängelt vor allem viele Ballverluste.

Holland-Legenden sehen "schijtbakkenvoetbal"

Beim öffentlich-rechtlichen Sender NOS packt deshalb Oranje-Legende Pierre van Hooijdonk eine weitere Wort-Perle aus den Tiefen des niederländischen Fußball-Lexikons aus: "schijtbakkenvoetbal"! Zusammen mit Rafael van der Vaart zeigt er sich genervt von den konservativen Taktiken zum Ende der Partie auf beiden Seiten: ''Ich finde, das war schijtbakkenvoetbal - ein bisschen beschissener Fußball", sagt von Hooijdonk. "Nicht nur von Frankreich, weil sie mit so vielen guten Spielern so konservativ gespielt haben, sondern auch von Orange, von dem ich eigentlich viel mehr erwarte. Ich hätte gerne Joshua Zirkzee oder Donyell Malen noch in diesem Spiel gesehen."

Dabei fängt alles sehr vielversprechend an. Die Stimmung in der Arena ist bombastisch, beide Fanlager geben sich von Beginn an extrem lautstark, in beiden Kurven setzt sich die 90 Minuten über niemand. Und gleich in der ersten Minute hat Bayer Leverkusens Jeremie Frimpong, der Joey Veerman aus der niederländischen Startelf verdrängt hat, das 1:0 auf dem Fuß, doch er scheitert mit einem holprigen Schüsschen.

Das Spiel bleibt in der ersten Hälfte extrem intensiv, aber Frankreich nimmt das Zepter in die Hand. Spielt sich Chance um Chance heraus, sodass die Oranje-Fans ganz ohne VAR eine Vielzahl kleiner Schocks erleiden und immer leiser werden. Allerdings, und das wird schnell klar, es fehlt Kylian Mbappé. Genauer gesagt: der Torriecher der Nase der Grande Nation. Seinen Platz in der Offensive und als Kapitän soll Antoine Griezmann ausfüllen - doch der Star von Atlético Madrid lässt etliche beste Chancen liegen.

In der dritten Minute nähert der 33-Jährige sich mit einem wuchtigen Fernschuss an, elf Minuten später verpasst er den ersten Hochkaräter. Marcus Thuram steckt im Strafraum traumhaft per Hacke auf Adrien Rabiot durch, der geistesgegenwärtig noch einmal querlegt. Aber Griezmann leistet sich einen bitteren Verstolperer beim Schussversuch. Nur 20 Sekunden später darf der Ersatzkapitän es noch einmal versuchen, weil er vor van Dijk an den Ball kommt, doch schlenzt das Leder knapp am linken Pfosten vorbei.

Griezmann verzweifelt

Die Fans von Les Bleus ahnen zu diesem Zeitpunkt bereits, dass es ohne ihren Starstürmer schwer werden könnte. Stunden vor dem Anpfiff sickert die Nachricht durch, dass Mbappé nur auf der Bank sitzt. Der Kapitän, der Anführer, der vielleicht einzige Unersetzliche im Star-Ensemble. Quelle horreur. Und tatsächlich kommen die Franzosen wie schon gegen Österreich, als ein von Mbappé erzwungenes Eigentor für den Sieg sorgte, zu keinem eigenen Treffer. Kein Spieler im Kader mit Tor nach 180 Minuten - so schlecht ist keine andere Mannschaft bei der EM.

Dabei wurde die Offensive der Franzosen vor dem Turnier so hochgelobt. Möglicherweise ist es gegen Oranje einfach Abräumer Jerdy Schouten von der PSV Eindhoven, genauer gesagt Jerdy Hendrikus Gerardus Bernardus Schouten, der ob seiner Namenskraft den Équipe-Tricolore-Angreifern Angst einjagt. Wahrscheinlich ist die Offensive aber einfach zu abhängig von der Durchschlagskraft Mbappés, der in den beiden EM-Qualifikationsspielen, zwei Siegen, gegen die Niederländer vier der insgesamt sechs Tore erzielt hatte. 30 Tore in den vergangenen 31 Spielen für Les Bleus hat er erzielt. Was wäre gewesen, wenn er an Griezmanns Stelle gewesen wäre?

So zum Beispiel in der 65. Minute. Als Griezmann endgültig das Pech an den Fußballschuhen pachtet: Über ein tolles Zusammenspiel von Thuram und Ousmane Dembélé kommt der Ball zu N'Golo Kanté, der genial zu Griezmann am rechten Pfosten durchsteckt. Aber der kann das Leder nicht wirklich kontrollieren, fällt wie schon bei der ersten hundertprozentigen Chance und stochert die Kugel mit links nur noch hauchzart aufs Tor. Aber der Ball will an diesem Abend einfach nicht über die Linie.

Niederlande unter Druck

"Ich hatte zwei super Chancen, die bleiben dir in den Füßen hängen und das ist schon schade. Gearbeitet haben wir, in der Defensive waren wir gut, taktisch waren wir gut. Es fehlt einfach nur dieses verdammte Tor für die Angreifer, aber es wird kommen", sagt ein geknickter Griezmann nach der Partie.

Der Druck ist nun für die Niederländer dennoch ungleich höher, denn sie müssen am Dienstag gegen die starken Österreicher ran, die mindestens Zweiter in der schweren Gruppe D werden wollen. Und so lassen sie bereits kurz vor der Halbzeit ein erstes Mal die Bierbecher regnen. Es gibt eine Ecke der Franzosen, direkt vor der Oranje-Kurve. Das reicht als Grund. An einen vermeintlichen Torklau, an den Party-Schock, denken die Fans in diesem Moment noch gar nicht.

Ein französischer Spieler trabt zur Eckfahne und räumt einige der Plastikgefäße weg. Es ist Antoine Griezmann. Natürlich. Er beschwert sich nicht, hadert im Kopf vielleicht noch mit den vergebenen Chancen. Seine Ecke bringt auch nichts ein.

Quelle: ntv.de

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