Alle schimpfen auf Bondscoach Viel Ärger über die "Dummheit" in Oranje
28.06.2021, 11:59 Uhr
Frank de Boer hat zu all dem Stress jetzt auch noch eine Menge Ärger.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Mit der Niederlage der Niederlande gegen Tschechien hat die Fußball-Europameisterschaft ihre erste große Überraschung. Das wird vor allem Bondscoach Frank de Boer angelastet. Der leistet sich ein Sakrileg und muss nun dafür bezahlen.
Nein, besonders angenehm war das Arbeiten für Frank de Boer als Bondscoach nie. Seit dem Sonntagabend aber, seitdem hat der ehemalige Nationalspieler richtig Ärger. Weil er die Zeichen des Himmels ignorierte und vor allem, weil sich seine Mannschaft mit einer ganz schwachen Vorstellung aus der Europameisterschaft verabschiedete. 0:2 gegen Tschechien, der größtmögliche Außenseiter des Achtelfinals. Eine Mannschaft, die seriös verteidigte und vorne eiskalt zuschlug.
Dabei hatte sich nach einer souveränen Vorrunde mit drei Siegen und reichlich Toren gerade ein bisschen Vertrauen in de Boer und seine Mannschaft eingestellt. Das machte alles noch ein bisschen schlimmer, mindestens für Georginio Wijnaldum: "Mir geht gerade so ziemlich alles durch den Kopf. Wir haben einfach zu wenig geleistet. Ich weiß, dass die Liebe des Landes zu uns im Laufe des Turniers gewachsen ist. Gerade deswegen ist es sehr schmerzlich, sehr schwierig gerade", sagte der enttäuschte Kapitän.
Vergiftetes Eingeständnis
Ausgerechnet de Boer selbst hatte schon gewarnt: "Wir haben ja die Erfahrung von 2008: Drei Superspiele - und dann, naja." 2008, eine Zahl, die die Niederlande an eine dunkle Stunde ihrer stolzen Fußballhistorie erinnert: Drei Siege in der Vorrunde machten die Niederlande zum Topfavoriten auf den EM-Sieg, doch dann war im Viertelfinale gegen Russland völlig überraschend Schluss. De Boer war damals als Spieler dabei, am Sonntag war er dafür verantwortlich, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Es ging schief und de Boer hatte eine dünne Erklärung, ein vergiftetes Schuldeingeständnis parat. "Man kann mir die Schuld geben", sagte er nach dem EM-Aus. "Ich übernehme die Verantwortung dafür, dass die Spieler nicht ihr normales Level erreicht haben." Die Spieler haben ihr Level nicht erreicht, gewiss. Doch de Boer ist eben möglicherweise auch keiner, der sie dorthin zu bringen vermag. Die niederländische Sportöffentlichkeit ist sich da recht einig.
De Boer hatte die Elftal erst im September übernommen, nachdem Vorgänger Ronald Koeman dem Ruf des FC Barcelona gefolgt war. In seiner Bewerbungsmappe fanden sich, abgesehen von einer großen Karriere als Spieler, vier Meistertitel mit Ajax Amsterdam von 2011 bis 2014. Danach aber gelang nicht mehr viel: Bei Inter Mailand flog er 2016 nach nur drei Monaten raus, bei Crystal Palace hielt er sich sogar nur zwei Monate im Amt. José Mourinho nannte ihn "den schlechtesten Trainer, den die Premier League je erlebt hat". Später arbeitete de Boer in den USA für Atlanta United, Mitte 2020 war auch da Schluss. Vielleicht, der Verdacht hält sich hartnäckig, wurde de Boer einfach nur Bondscoach, weil er gerade Zeit hatte, als der Verband schnell die Nachfolge von Koeman klären musste. Viele Argumente für de Boers Inthronisierung gab es nicht.
"Viel Zündstoff für Diskussionen"
Die Enttäuschung über den neuen Coach, der auf die Großtrainer Louis van Gaal und Koeman folgte, wuchs schnell zum Zorn an. Und das hatte systemische Gründe. Denn de Boer, der auch an guten Tagen wie eine sehr missmutige Version von Tom Cruise aussieht, rüttelte früh an einer Grundfeste des niederländischen Fußball-Selbstverständnisses: Statt des sakrosankten 4-3-3, der Idee des nationalen Fußball-Heiligen Johan Cruyff vom schönen, spannenden, hochintensiven Fußball, ließ de Boer ein 5-3-2 spielen, das er lieber als 3-5-2 verkaufte.
Damit verärgerte er die versammelte Expertenschar und viele Fans. Ex-Profi Rafael van der Vaart ätzte gegen die Ideen von de Boer: "Nein zum 5-3-2. Wenn wir so spielen, müssen wir die Partie gar nicht übertragen." Und Youri Mulder, früher Sturmheld auf Schalke, giftete: "Er ist leider nicht sehr souverän. Vorgänger wie van Gaal oder Ronald Koeman haben die Stärke echter Leader ausgestrahlt. Der Boer dagegen murmelt oft in sich hinein, wirkt manchmal abwesend, wenn er redet, und das ist schwierig für einen Bondscoach, der in den Tagen eines großen Turniers immer auch ein bisschen unser Staatschef ist. Er hat viel Zündstoff für Diskussionen geliefert."
Und sie hatten ja wirklich bis zuletzt alles versucht, sogar ein Zeichen des Himmels hatte nichts genutzt: Beim Abschlusstraining vor dem EM-Auftakt gegen die Ukraine zog ein Flugzeug eine Botschaft übers Trainingsgelände des Verbandes: "Frank, gewoon 4-3-3", Frank, nur 4-3-3, wurde gefordert. "Danke für den Tipp", kommentierte de Boer den Versuch kühl, "aber es bleibt beim 3-5-2." Die Sturheit des Bondscoachs, sie nervte manchen. "Cruyff würde sich im Grabe umdrehen", ätzte ein ehemaliger Nationalspieler und enger Weggefährte de Boers. Es war Ronald de Boer, der eigene Zwillingsbruder.
Zum EM-Start gegen die Ukraine funktionierte die Idee de Boers, Außenverteidiger Denzel Dumfries erzielte nicht nur das Siegtor zum 3:2, sondern war auch einer der offensivsten Spieler seines Teams. Es war ein Hauch von Spektakel, das man ablieferte in Amsterdam, der Stadt Cruyffs. Das Zutrauen in die junge Mannschaft wuchs im Land und mancher erinnerte sich, dass der große van Gaal seine Version der niederländischen Nationalmannschaft 2010 ja sogar im 3-5-2 ins WM-Endspiel geführt hatte.
"Wir waren recht machtlos"
Doch das Vertrauen in de Boer, es wuchs nie und es wäre auch enttäuscht worden. Das neue System hatte er im Hauruck-Verfahren eingeführt, um mehr taktische Variabilität anbieten und flexibler arbeiten zu können. Gegen seriöse aber nicht überinspirierte Tschechen, die sich vehement und überaus erfolgreich darauf konzentrierten, dem niederländischen Spiel die Dynamik zu entziehen, verzichtete de Boer nahezu vollständig darauf, auf das Spiel zu reagieren.
Nach der Roten Karte gegen Matthijs de Ligt mussten die Niederlande eine gute halbe Stunde in Unterzahl agieren und kassierten die beiden Tore. "Wir hatten einen gebrauchten Tag. Nach der Roten Karte waren wir recht machtlos. Es ist ein sehr komisches Gefühl, weil ich den Eindruck hatte, dass wir im Turnier gewachsen sind", klagte Kapitän Wijnaldum. Und de Ligt, der Untröstliche, der nach einem kuriosen Stolperer den Ball unübersehbar mit der Hand vor dem zum Abschluss bereiten Patrick Schick rettete und folgerichtig vom Platz musste, gestand ein: "Das fühlt sich schrecklich an, natürlich. Denn wir haben am Ende nur wegen dem verloren, was ich getan habe. Wir hatten das Spiel bis dahin unter Kontrolle, denke ich. Doch dann die Rote Karte ... Das hat den Unterschied gemacht."
Der ehemalige Nationalspieler Nigel de Jong sagte im englischen Fernsehen gnadenlos: "Das war wirklich eine armselige Vorstellung. Es hat an allem gefehlt - Mentalität, Aggressivität, Führungsqualitäten. Nach der Roten Karte war der Glaube weg, das Spiel gewinnen zu können." Und in Richtung seines ehemaligen Mannschaftskollegen in der Elftal: "Nach dem Platzverweis hätte er umstellen sollen. Aber er ist weiter bei fünf Verteidigern geblieben. Wofür denn bitte? Für mich sah es so aus, als wollte er so lange wie möglich das 0:0 halten. Er hat es auch nicht geschafft, der Mannschaft den Glauben an sich selbst zu vermitteln."
"Die Dummheit de Boers"
Während Tschechien, das such noch den Ausfall von Kapitän Vladimir Darida kompensieren musste, als eine Ansammlung individuell unterlegener Spieler ausgestattet mit einer einfachen, guten Idee triumphierte, rannte diese Ansammlung herausragender Talente und spannender Einzelspieler wie Wijnaldum oder Memphis Depay ideenlos in ihren Untergang.
De Boer, so empfahl es ihm ein nicht wirklich wohlmeinender Nigel de Jong, "sollte am Montag besser nicht in die Zeitung schauen ..." Dort würde er erwartungsgemäß wenig Erfreuliches lesen: "Oranje bezahlt die Dummheit de Boers teuer", titelte "De Telegraaf". "Wir haben alle einen großen Kater. Wir müssen über alles nachdenken", sagte de Boer: "Man sollte jetzt keine Entscheidungen treffen. Ich werde diese bittere Pille schlucken." Es könnte ja alles noch viel bitterer werden für den unglücklichen Bondscoach. Es könnte aber auch alles ganz schnell vorbei sein.