Das merkwürdigste System der EM Wie England gegen seine eigenen Stärken spielt
20.06.2024, 13:11 UhrViele Experten sehen in Englands EM-Kader von 2024 die beste Nationalmannschaft, die das Mutterland des Fußballs je hatte. Die Insel träumt vom Titel. Der Auftakt gelingt nur auf dem Papier. Auf dem Rasen macht Trainer Gareth Southgate es seinen Spielern unnötig schwer.
Einfachheit und Effektivität sind eine super Sache. Auch oder gerade im Fußball. Sich auf die Basics zu berufen, die Spieler nicht zu überfrachten, ist selbst auf dem höchsten Niveau des Sports noch ein vielversprechender Ansatz. In der Champions League konnte man das immer mal wieder sehen: bei Thomas Tuchel und seinem FC Bayern oder bei den Königen des Pragmatismus, Real Madrid. Auch wenn es einfach aussieht, das will gelernt sein: Real Madrid ist nicht nur deshalb erfolgreich, weil sie auch dem Gegner mal den Ball überlassen und sich zurückziehen. Sonst würden es ja alle anderen auch so machen.
Im Gegensatz zu Vereinsmannschaften haben die Trainer auf Nationalmannschaftsebene deutlich weniger Zeit mit ihren Teams. Dieses Problem teilen sich alle 24 Verantwortlichen bei dieser Europameisterschaft. Ihre Auserwählten spielen im Alltag nicht im gleichen Verein, teilweise nicht mal im gleichen Land. Wie umgehen mit einer solchen Situation? Einige Nationalmannschaften setzen auf Systeme, die immerhin der Großteil ihrer Spieler kennen. Alle anderen müssen den kleinsten gemeinsamen Nenner finden, und der lautet häufig: Zerstören ist einfacher als kreieren. Defensive ist einfacher als Offensive.
Der Meister darin, es einfach zu halten, ist Frankreich. Unter Trainer Didier Deschamps schwingt sich die "Équipe tricolore" in den vergangenen Jahren mit dieser Art Fußball zur Benchmark des internationalen Fußballs auf, wird 2018 Weltmeister, und ist auch bei der EM in Deutschland wieder einer der Top-Favoriten. Und das, ohne selbst regelmäßig berauschend aufzutreten. Am Ende geht es - vor allem im Turnierfußball - um Effektivität.
"Southgate ist Innenverteidiger"
Für berauschende Auftritte hätte England definitiv den passenden Kader. Das beweist schon ein Blick auf die Bank, dort saß beim mühsamen Auftakt (1:0) gegen Serbien beispielsweise Ollie Watkins, der für Aston Villa 40 Tore erzielt oder aufgelegt hat. Oder Chelsea-Youngster Cole Palmer, der es dem ehemaligen Bayern-Star Owen Hargreaves angetan hat. "Am Anfang der Saison hat ihn niemand auf der Rechnung gehabt", sagte der MagentaTV-Experte im Gespräch mit ntv.de. "Aber er hatte eine starke Saison für Chelsea und kann überall eingesetzt werden: Links, rechts und auf der Zehn. Ich glaube, Cole Palmer wird eine entscheidende Rolle spielen."
AufSchalke kam der 22-Jährige nicht mal zum Einsatz. Es ist abzuwarten, ob das gegen Dänemark (18 Uhr/MagentaTV und im ntv.de-Liveticker) anders sein wird. Rein theoretisch könnte Southgate auch ihn noch aufbringen, etwa wenn Bellingham statt Trent Alexander-Arnold neben Declan Rice spielt. Dann wäre noch Platz für einen Offensivkünstler mehr. Doch dass es dazu vielleicht nicht kommen wird, ahnte Hargreaves bereits vor dem Turnier. "Ich denke, Gareth Southgate wird es nicht so machen. Er ist Innenverteidiger, er denkt an die Defensive", so der 42-fache englische Nationalspieler.
Stärken der halben Startelf negiert
Und so sah die Partie gegen Serbien auch aus. Eine 1:0-Führung von Jude Bellingham aus der 14. Minute retten in der zweiten Halbzeit passive Engländer erfolgreich über die Zeit. Doch so ganz will die Priorität Southgates nicht zu seiner Aufstellung passen. Phil Foden wurde bei Manchester City bester Spieler der Premier League. In einer Mannschaft, die sehr balldominant agiert, den Gegner laufen lässt und aktiv nach Lücken für ihre grandiosen Dribbler sucht. Auch John Stones und Kyle Walker spielen in dem Team von Pep Guardiola. Guardiola-Lehrling Mikel Arteta lässt beim FC Arsenal ganz ähnlichen Fußball spielen. Bukayo Saka ist dort Stammkraft, Rice auf der Sechs sogar das Herz der Mannschaft. Und auch Harry Kane wurde Bundesliga-Torschützenkönig in dem Team mit dem meisten Ballbesitz, dem FC Bayern.
Foden, Saka, Kane, Rice, Stones, Walker. Warum negiert Englands Nationaltrainer Gareth Southgate mit seiner passiven Spielweise die Stärken der halben Startelf, setzt über einen Großteil eher auf Konter-, denn auf Ballbesitzfußball? Harry Kane verfügt - bei all seinen Qualitäten - nicht über olympische Zeiten über die 100-Meter-Distanz. Und Foden und Saka sind es aus ihren Vereinen gewohnt, den Ball immer wieder am Fuß zu haben und sich den Luxus erlauben zu können, geduldig zu sein. Micah Richards, Experte für die BBC und ehemaliger Man-City-Spieler, sagte nach Abpfiff: "Das größte Thema heute Abend war Phil Foden. Ich denke, er ist in den ersten 20 Minuten in wirklich gute Positionen gekommen. Wir müssen einen Weg finden, das Beste aus ihm rauszuholen. Er war einfach nicht involviert." Beinahe symbolisch sticht bei den Engländern vor allem Jude Bellingham heraus. Spieler von Real Madrid erwecken dieser Tage den Eindruck, alle äußeren Umstände einfach ignorieren zu können. In der Champions League können die Königlichen so unansehnlich spielen wie sie wollen, gewinnen tun sie trotzdem.
Auch, weil sie einen passenden Kader haben für ihre Art des Fußballs. Antonio Rüdiger führt eine fantastische Defensive an, mit Thibaut Courtois weiß er einen der besten Torhüter der Welt hinter sich. Im Mittelfeld tummeln sich rund um Toni Kroos Spieler, die zwar herausragende Fußballer sind, aber genauso gut uneitel dem Ball hinterherlaufen können. Und vorn veredelt der pfeilschnelle und vor allem eiskalte Vinicius Junior wenige Chancen zu entscheidenden Toren.
"Kann ja nicht der Anspruch sein, bei aller Liebe"
England hingegen könnte sich Ball und Gegner geduldig zurechtlegen, so wie es ihre Stars aus den Vereinen kennen, um dann im richtigen Moment das Tempo anzuziehen. Wie das aussieht, konnten die Zuschauer in Gelsenkirchen beim 1:0 bestaunen. Aus einer relativ statischen Situation spielt Kyle Walker rechtsaußen einen starken Pass auf den startenden Saka. Der flankt, Bellingham köpft, Tor. Und auch defensiv überzeugt England zu Spielbeginn. In den ersten 15 Minuten des Spiels lassen die Three Lions nichts anbrennen. Sie sind aktiv und beschäftigen Serbien, die wiederum nicht mal in die gegnerische Hälfte kommen. Nach dem Tor zieht sich England dann plötzlich zurück. Und klar, 1:0 gewonnen, drei Punkte geholt, nichts ist passiert. Dennoch war die Umstellung nach dem Führungstreffer fahrlässig. Statt offensiv nachzulegen, muss einer der Turnier-Favoriten gegen Serbien darauf hoffen, dass deren Distanzschüsse das Ziel verfehlen, dass kein englischer Verteidiger unglücklich den Ball an die Hand bekommt und kein Serbe bei einer Ecke etwas höher springt als sein Gegenspieler. Fürs Erste wird der Ansatz mit drei Punkten belohnt. Durch das Unentschieden zwischen Slowenien und Dänemark ist die Southgate-Elf sogar Tabellenerster.
Und doch hatten sich viele Fans und Experten mehr von dieser Offensive versprochen. "Das ist seit sechs, sieben Jahren so. Ich gucke mir jedes Mal England an, und weiß nicht, was sie machen wollen. Mit dem Kader erwarte ich mir, dass man drüberfährt", sagte Kramer. "Das kann ja nicht der Anspruch sein, bei aller Liebe." Vor allem die Einbindung von Bayern-Stürmer Harry Kane ist dem Weltmeister von 2014 ein Dorn im Auge. "Er sieht aus wie ein typischer Neuner, bewegt sich aber ja wie ein Zehner, weg von der Kette, wie ein Spielmacher. Aber dieses Element ist in diesem englischen Spiel ja gar nicht vorhanden.", so der ZDF-Experte. Ex-Liverpool-Spieler Jamie Carragher schreibt in einer Kolumne ebenfalls vom "Kane-Problem" des englischen Nationalteams.
Ausgerechnet Southgate selbst lässt hoffen, dass die Fans noch ein anderes England zu sehen bekommen. Als nächster Gegner der Three Lions wartet am heutigen Donnerstag Dänemark (18 Uhr/ZDF, MagentaTV und im ntv.de-Liveticker). Bei der EM 2021 begegneten sich beide Teams im Halbfinale, erst in der Verlängerung mussten sich die Skandinavier geschlagen geben. Auf der Pressekonferenz vor der Revanche sagt der Trainer: "Wir müssen beweisen, dass wir besser sind als vor drei Jahren. Wir wissen, dass wir gute Spieler haben und dass wir besser auftreten können als im ersten Spiel". Deutschland oder auch die spanische Auswahl haben bisher eindrucksvoll gezeigt, dass auch beides geht: Schön und erfolgreich spielen. Die Mittel dafür hat England, der Mut fehlt noch.
Quelle: ntv.de